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: Generalstreik in Armenien nach gescheiterter Wahl

Oppositionsführer Nikol Paschinjan rief seine Anhänger zu zivilem Ungehorsam in der Südkaukasusrepublik auf. Zuvor hatte das Parlament ihn als Regierungschef abgelehnt

Das Neue

Seit den Morgenstunden blockieren Tausende Demonstranten den Verkehr in und aus der Hauptstadt Eriwan. Auch Zugverbindungen und der Flugverkehr sollen unterbrochen worden sein. In den Provinzen drangen Demonstranten in die lokalen Verwaltungen ein und forderten die Mitarbeiter auf, sich den Protesten anzuschließen.

„Wir werden mit unserem Streik und unserem Widerstand weitermachen“, sagte Oppositionsführer ­Nikol Paschinjan. Der 42-jährige Journalist hatte sich den Demonstranten angeschlossen und zog in Tarnkleidung, mit Rucksack und Käppi mit einigen Tausend Anhängern durch die Hauptstadt. Seit Wochen war er so auf dem Marsch durch Armenien unterwegs.

Kontext

Am Dienstag wollte sich Paschinjan als einziger Kandidat vom Parlament zum Ministerpräsidenten wählen lassen. Die regierende Republikanische Partei verfügt dort über 58 von 105 Mandaten. Paschinjan hatte sich selbst als „Kandidat des Volkes“ eingeführt. Das Parlament verweigerte ihm aber die Zustimmung. Nur 45 Abgeordnete gaben ihm ihre Stimme, 55 votierten gegen ihn. In der Sondersitzung des Parlaments drohte der Volkstribun: Sollte er nicht gewählt werden, stünde dem Land ein „politischer Tsunami“ bevor. Die Regierungspartei warnte er, die „Nachsicht des Volkes nicht mit Schwäche zu verwechseln“.

In den drei der Abstimmung vo­rausgegangenen Protestwochen war es der Opposition unerwartet gelungen, den ehemaligen Präsidenten und gerade erst neu ins Amt des Ministerpräsidenten gewählten Sersch Sargsjan zum Rücktritt zu zwingen. Sargsjan hatte versucht, seine Herrschaft durch verfassungsrechtliche Tricks zu verlängern. Das kam beim Wahlvolk nicht gut an, was schließlich zu anhaltenden Protesten führte.

Reaktion

Bislang erinnert der vor allem von jungen Leuten getragene Widerstand an einen „Karneval der Revolutionen“, meinte ein armenischer Beobachter. Zu Ausschreitungen und gewaltsamen Auseinandersetzungen war es in den letzten drei Wochen nur vereinzelt gekommen. Auch die Polizei hält sich seit dem Rücktritt des Ministerpräsidenten zurück. Die Demonstranten ­sprechen von einer „samtenen ­Revolution“. Fraglich ist, wie lange sich die Friedfertigkeit noch halten lässt.

Konsequenz

Die politische Krise lasse sich nicht mit Gewalt lösen, sagte Paschinjan am Mittwoch. Alle Soldaten würden sich im Zweifelsfall dem Protest anschließen, so der Oppositionelle. Die Wahl zum Regierungschef muss gemäß der Verfassung bis zum 8. Mai wiederholt werden. Scheitert die Wahl erneut, muss das Parlament aufgelöst und müssen Neuwahlen abgehalten werden. Ob Paschinjan kandidieren würde, ließ er zunächst offen.

Trotz aller Unübersichtlichkeit sind sich die Demonstranten in Eriwan sicher, dass sie den Sieg bereits davongetragen haben. Nur wenige befürchten, das Blatt könnte sich noch einmal wenden.

Klaus-Helge Donath