„Wir haben lange zu den Sprüchen der AfD geschwiegen“

Mit einer Anfrage zu Behinderungen und Inzest erzürnt die AfD die Sozialverbände. Ulrich Schneider vom Paritätischen Gesamtverband fordert einen Strategiewechsel im Umgang mit den Rechtspopulisten

Foto: Der Paritätische

Ulrich ­Schnei­­der, 59, Haupt­ge­­schäfts­­führer des Deutschen Paritä­tischen Wohl­fahrts­verbands.

Interview Ulrich Schulte

taz: Herr Schneider, die Sozialverbände haben in einer großen Anzeige gegen die AfD protestiert. Warum war für Sie jetzt eine Grenze überschritten?

Ulrich Schneider: Die AfD hat in einer Kleinen Anfrage im Bundestag einen Zusammenhang zwischen Behinderung, Inzest und Migration hergestellt. Vordergründig erkundigt sich die Fraktion nach der Zahl behinderter Menschen in Deutschland. Aber in Wirklichkeit wird ein abwegiger Kontext konstruiert, der uns an nationalsozialistisches Gedankengut erinnert.

Die AfD-Abgeordnete Nicole Höchst sagt, es gehe um Faktenwissen, um Handlungsbedarf zu erkennen.

Das nehme ich ihr nicht ab. Die Fakten sind öffentlich zugänglich und bekannt. Entscheidend ist das Bild, das gezeichnet wird. Die AfDler sind Medienprofis. Sie wissen genau, was welche Assoziationsketten auslöst. Ein Beispiel aus der Anfrage: Die AfD schreibt nicht: „Kinder mit Behinderungen kommen zur Welt.“ Sondern sie fabuliert von „entstandenen“ Behinderten. Solch subtile Feinheiten sind wichtig. Das ist eine Versachlichung menschlichen Lebens.

Dass sich 18 soziale Organisationen öffentlich gegen eine Partei stellen, ist ein ungewöhnlicher Schritt. War er intern umstritten?

Überhaupt nicht. Bei uns im Haus war allen klar: Es handelt sich nicht nur um Provokationen; das wäre eine Verniedlichung. Die AfD ist kein kleiner Hund, der nur spielen will. Die meinen das ernst. Bei uns arbeiten Menschen mit Behinderungen oder Eltern von Kindern mit Handicap. Denen macht die AfD Angst.

Wer öffentlich gegen die AfD protestiert, verschafft ihr mehr Aufmerksamkeit. Wie gehen Sie mit diesem Dilemma um?

Diese Diskussion führen wir im Paritätischen Wohlfahrtsverband mittlerweile seit zwei Jahren. Wir haben lange zu menschenverachtenden Sprüchen geschwiegen, um die AfD nicht aufzuwerten. Aber leider ist es ja so: Die AfD wird auch stärker, wenn man nicht reagiert. Deshalb ist es Zeit für einen Strategiewechsel.

Weil die AfD sowieso Öffentlichkeit bekommt?

Ja. In der heutigen Talkshowkultur und in sozialen Netzwerken bekommt die AfD immer Öffentlichkeit. Deshalb hilft nur die Flucht nach vorn. Man muss ihre menschenfeindliche Gesinnung als solche bezeichnen und sie in den Kontext stellen. Es ist ja keineswegs so, dass alle AfD-Wähler rechtsextrem sind. Wir glauben an die Kraft der Aufklärung und der Vernunft.

Reagieren die anderen Parteien richtig auf die AfD?

Leider nicht. Die AfD treibt seit Sommer 2015 die Regierungsparteien vor sich her. Erst sagte die Kanzlerin „Wir schaffen das“ und Sigmar Gabriel trug den „Wir helfen“-Button der Bild-Zeitung am Revers. Doch kurz danach begann die Regierung, restriktive Gesetze zu erlassen. So ist es bis heute. Mir kann keiner erzählen, dass wir ohne die AfD einen Heimatminister hätten. Früher hätten sich doch alle an die Stirn getippt.