Pariser Mai-Proteste 1968: Das Gefühl, alles erreichen zu können

Am 10. Mai 1968 kam es in Paris zur „Nacht der Barrikaden“. Sie steht für etwas, das viele nicht mögen: das Unvorgesehene.

Ein Student steht in Paris auf Barrikaden aus Sperrholz

Hart verteidigte Barrikaden: In der Nacht vom 10. auf den 11. Mai 1968 gab es 367 Verletzte Foto: Guy le Querrec/Magnum Photos/Agentur Focus

Wir waren jung und schön, und wir verbrachten die besten Momente unseres Lebens. So sehr hatten wir davon geträumt, in den entbehrungsreichen Jahren des Kampfs, die auf die großen Kampagnen gegen den Algerienkrieg gefolgt waren. Im Mai 1968 wurde aus dem Traum Realität.

Meine Erinnerungen gehen wild durcheinander. Tagsüber demonstrierten wir, am Abend arbeiteten wir für Action, die Tageszeitung der Bewegung und des Aktionskomitees. Die Nächte werden wir wohl auf Sesseln der Geschichtsfachschaft an der Sorbonne verbracht haben, denn ich bin erst Ende Juni das erste Mal wieder in meiner Wohnung gewesen. Aber vor allem dominierte ab Anfang Mai dieses Gefühl einer Allmacht, des Alles-erreichen-Könnens, das uns erfüllte. Tag für Tag zeichnete sich ein bisschen mehr eine Massenbewegung ab, die sich zum Undenkbaren auswuchs: zum Generalstreik und der Besetzung von Fabriken durch Millionen von Arbeitern.

Ich erinnere mich an diesen 7. Mai, an dem wir mit einem guten Dutzend Leute im Quartier Latin losgezogen sind, ohne Ziel, und den ganzen Tag lang demonstriert haben, einmal quer durch Paris. Unsere Gruppe wuchs im Lauf der Wegstrecke – es waren bestimmt an die 30 Kilometer – immer weiter. Diese Menge war insofern umso beeindruckender, als die Demonstration völlig improvisiert war; wir hatten weder Spruchbänder noch Schilder.

Am Abend landeten wir auf den Champs-Élysées. Man kann sich heute nicht vorstellen, was eine spontane Demonstration auf den Champs-Élysées im Jahr 1968 bedeutete. Für uns, die wir unser Leben im Quartier Latin, zwischen der Rue Mouffetard, dem Boulevard Saint-Michel und dem Club La Huchette verbrachten, lagen die Champs-Élysées am anderen Ende der Welt. Als wir sie an diesem Abend hinunterliefen, standen mir die Tränen in den Augen. Das Gefühl, etwas bewegen zu können, das uns seit Tagen trug, erreichte an diesem Tag wohl seinen Höhepunkt.

Ich erinnere mich an den 10. Mai, die Nacht der Barrikaden. Hart verteidigte Barrikaden waren das: Es gab 367 Verletzte (251 unter den Ordnungskräften und 102 Studenten). Unsere Stimmen waren heiser, so viel hatten wir geschrien. Ich erinnere mich an ein langes Gespräch in dieser Nacht zwischen Alain Geismar, dem Führer der Hochschulgewerkschaft, und Alain Peyrefitte, dem damaligen Bildungsminister, den die Ereignisse offenbar völlig überrumpelt hatten.

Der König war nackt

Durch den von der Gewerkschaft installierten Lautsprecher hörten wir baff der hölzernen Sprache eines Ministers zu, der den Grad seiner Verantwortung nicht begriffen hatte. Der die immer gleichen der Besänftigung dienenden Sätze äußerte, während einige Meter weiter die Konfrontation unausweichlich wurde, und der seinerseits nicht das geringste Zugeständnis machte.

„Wir wollten de Gaulle zum Rücktritt bewegen, aber wir waren nicht bereit für eine gewaltsame Revolution“

Seit Tagen gab es nur noch ein Ziel: dass sich die Polizei aus der Sorbonne zurückzieht. Ich erinnere mich, wie Geismar Peyrefitte warnte: „Es wird Tote geben, und Sie tragen dafür die Verantwortung.“ Glücklicherweise gab es keine Toten. Aber an diesem Abend habe ich begriffen, dass der König und sein Hof nackt waren. Und dass wir dabei waren zu gewinnen.

Ich erinnere mich an eine Versammlung am Vorabend des 24. Mai zwischen Vertretern verschiedener Gruppen, die versuchten, diese vielfältige Bewegung unter einen Hut zu bekommen. Jedes Mal tauchte das gleiche Problem auf: bei den Demonstrationen ein Ziel zu finden, mit dem sich die Gewalt- und Machtfrage stellen ließ. Auf der Suche nach solchen Zielen hatten einige Kundschafter einen Abstecher ins Pariser Rathaus gemacht. Sie stellten fest, dass das Rathaus nur schwach bewacht und deshalb leicht zu besetzen war. Es reichte, die Demo in der Nähe vorbeilaufen zu lassen und die großen Tore zu öffnen.

Aber was dann? Wir hatten Bilder vom 18. März 1871 im Kopf, dem Tag, an dem die Pariser Kommune ausgerufen worden war. Mit den verschiedenen Aktionskomitees bastelten wir ein Schild, das etwas anmaßend behauptete: „Paris gehört uns“.

Allerdings war die Revolte der Pariser Kommunarden blutig niedergeschlagen worden. Was sollten wir also tun? Ich erinnere mich, wie bei dieser Versammlung jemand sich den Fortgang vorstellte: „Wir kommen unter Vivat-Rufen auf den Balkon des Rathauses. Wir laden die Demonstrierenden ein, das Rathaus zu besetzen. Und wie geht es dann weiter? Wollen wir Waldeck-Rosset [den Genereralsekretär der Kommunistischen Partei] oder Mitterrand [von der linken nicht-kommunistischen Sammlungsbewegung FGDS, dem Vorläufer der Parti Socialiste] zu Hilfe rufen?“

Pubertätskrise von Bürgerkindern?

Diese Idee wurde schnell fallen gelassen. Wir wollten unsere Revolte nicht in die Hände der traditionellen Parteien legen. Die eine stalinistisch ausgerichtet, die andere ein Erbe der Politik der Vierten Republik. Wir wollten de Gaulle zum Rücktritt bewegen, aber wir waren nicht bereit für eine gewaltsame Revolution. Ebenso wenig waren wir bereit, den traditionellen Parteien den Staffelstab zu übergeben.

Wir stimmten also für die Besetzung des Rathauses. In jener Nacht – derselben, in der de Gaulle im Fernsehen ein Referendum für den Juni ankündigte – schickten wir Leute los, um die Börse in Brand zu setzen, was als Zeichen extremer Radikalisierung der Bewegung gewertet wurde. Obwohl es eigentlich ein Zeichen der Mäßigung war. Man sollte nie dem äußeren Anschein trauen.

1968 war ein bewegendes Jahr. Eines mit lang anhaltenden Folgen für alles, was sich in den kommenden Jahrzehnten als linksalternativ verstand – und letztlich für die gesamte Gesellschaft. Aber wie und wann hat das alles begonnen?

Kalenderblatt

Um unseren LeserInnen ein Gefühl dafür zu geben, startet die taz das „Kalenderblatt zum Sommer 1968“. In den kommenden Monaten werden wir in der gedruckten taz sowie auf Twitter und Facebook immer wieder auf ein vor 50 Jahren aktuelles Ereignis hinwiesen.

Karte mit Schauplätzen

Auf taz.de/1968 gehen wir auf Zeit- und Weltreise – mit einer Karte der Schauplätze des Protests und einem Wissens-Quiz, das gut geschulten Linken leichtfallen sollte.

Zum 50. Jahrestag ist die Idealisierung einiger auf Kosten der großen Masse zu befürchten. Die „alten Säcke“ sehen nur eine Pubertätskrise von Bürgerkindern, die sich in revolutionären Sprüchen verloren haben. Von jeher reiten sie auf den Dummheiten herum, die wir damals gesagt haben. Und wir haben weiß Gott dummes Zeug ­geredet. Sprüche wie „Wahlen, eine Falle für Idioten“ oder „CRSS=SS“ (die CRS war eine Spezialeinheit der Polizei). Oder, ebenso verheerend, die ehemaligen 68er, die nur sagen können „Ich war dabei“, aber das Wesentliche nicht vermitteln können: die unbeschreibliche Freude, die alle Akteure in diesem traumhaften Monat ergriffen hat, das Hochgefühl, das diese Generation geprägt hat. Eine Sicherheit, die ihr nicht ohne Grund von den nachfolgenden Generationen vorgehalten wird.

So sehr, dass es in Frankreich einen vielfältigen Hass auf den Mai 68 gibt, unter Linken ebenso wie unter Rechten. Der klassische Hass von Berufspolitikern auf uns unzeitgemäße Politik-Amateure. Der Hass der geläuterten Stalinisten auf die Bewegung, die alle Formen des Totalitarismus abgelehnt hat und nicht die Macht erobern wollte. Und dann all die vielen anderen, nicht weniger zahlreich, die vergessen zu erzählen, dass sie schlicht Angst hatten. Ja, Angst. Hass auf diesen Mai verspürten all jene, die Panik bekamen: feige Minister, die nur ans Kofferpacken dachten, autoritäre Arbeitgeber und Vorarbeiter, die nicht ohne Grund ihre Macht infrage gestellt sahen und verstanden, dass nach dem Mai 68 nichts mehr so sein würde wie vorher.

Der Mai 68 steht auch für das, was viele nicht mögen: das Unvorgesehene; Menschenmengen und Streiks; Fröhlichkeit und Freundlichkeit; der Machtrausch derjenigen, die nie zuvor Macht hatten. Und dann das Wesentliche, das meist vergessen wird: die sozialen Eroberungen, Gewerkschaften in den Fabriken, der Bruch einer ganzen Gesellschaft mit einem Autoritätsmodell, die Frauenbewegung. All das, wovon wir heute profitieren – ohne dass uns dabei stets bewusst wäre, dass wir es dem Mai 68 verdanken.

Übersetzung: Sabine Seifert

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Jahrgang 1946, ist Journalist und Publizist. Von 1981 bis 1987 war er Chefredakteur der Libération.

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