Gesammelte Wirklichkeiten

Das Studienzentrum für Künstlerpublikationen zeigt Arbeiten des Niederländers Herman de Vries. Der will Natur katalogisieren – und macht darüber dann doch wieder Kunst daraus

Treibgut aus der zweiten Natur: Herman de Vries’ Collage „random change“ von 1970, Sammlung BFA Foto: Peter Cox

Von Radek Krolczyk

Es gibt von Herman de Vries so ein dümmlich-romantisches Zitat über die Natur: Die sei „sich selber genug und soll dem Menschen auch genug sein. Was wir von der Natur noch um uns finden können, hat keine menschlichen Zufügungen nötig“, so der niederländische Künstler. „Sie ist sich selbst – und für uns eine Offenbarung.“ Wie das Studienzen­trum für Künstlerpublikationen derzeit in einer Ausstellung in der Weserburg zeigt, läuft seine künstlerische Praxis einem solchen naiven Anspruch zuwider. Und kann auch gar nicht anders. Denn: Kunst ist erst Kunst und Natur ist erst einmal Natur.

Wenn Natur in irgendeine Form kultureller Praxis eingeht, sei es mythologische Verehrung oder eben Kunst, dann ist sie bereits keine bloße Natur mehr. So einfach ist das. Natur aber ist der Hauptbezugspunkt des ausgebildeten Biologen und Künstlers, das ist offensichtlich. In der Weserburg ist ein Film zu sehen, der im vergangenen Jahr im März produziert wurde. Man sieht darin den Künstler auf einer mit Moos zugewucherten Bank im Wald sitzen. Er trägt eine Jeansjacke, eine Mütze und einen Schal und rezitiert eigene Gedichte, in denen er die Einfachheit der Natur preist. Es sind Verse wie: „the world is my chance/it changes me every day/my chance is my poetry“. Dann sieht man seine Hände auf dem Waldboden Laub und kleine Äste zusammensammeln. Von dieser Stelle aus erschließen sich möglicherweise zentrale Momente des Werkes, an dem Herman de Vries seit den 1970er-Jahren beständig arbeitet.

Der Hauptteil seines bildnerischen Werkes besteht aus Fundstücken aus der Natur wie Erde, Gräser oder Blütenblätter, die er meist auf Papier organisiert. Das mutet zwar naturwissenschaftlich an, ist aber eher grafisch oder eben künstlerisch. In der Weserburg sind auch zwei sehr frühe Collagen zu sehen, aus der Zeit, in der de Vries sich noch nicht so sehr für Natur interessierte und als Mitglied der Künstlergruppe „nul“ informell arbeitete. Verwendet hat er hier verschiedenfarbigen Karton, den er auf der Straße gefunden hatte – Fundstücke aus einer anderen Natur.

Typischer für ihn sind die gerahmten Anordnungen kleiner Blätter der vielteiligen Arbeit „2109x“ von 1986. Herman de Vries hat einen Blaubeerstrauch auseinandergenommen und die unterschiedlich großen Blätter in Reihen angeordnet. Von weitem sieht das Blätterbild aus wie eine Gruppe Pixel. Von Nahem allerdings erwächst ein völlig neues Verständnis eines solchen Busches, der hier aus der Dreidimensionalität heraus in die flache vertikale Position gebracht ist.

Wenn Natur in irgendeine Form kultureller Praxis eingeht, ist sie keine bloße Natur mehr. So einfach ist das

Einen Schwerpunkt der Ausstellung bilden de VriesKünstlerbücher, die hier in Vitrinen gezeigt werden. Um die 100 solcher meist kleinauflagigen Publikationen hat de Vries seit den späten 1950er-Jahren veröffentlicht. Viele davon beinhalten wiederum Fundstücke aus der Natur, etwa Blätter oder Gräser.

Dabei taucht ein interessanter Aspekt auf: Denn ein Blatt von einem Baum oder einem Strauch ist zum einen zwar immer ein Original, zum anderen entsteht es aber nach einem übergeordneten Prinzip, quasi als Kopie. Von 1977 ist sein Buch „october, february, june“, das drei Birkenblätter aus den jeweiligen Monaten eines Jahres enthält und so die Verfallsgeschichte von Individuen zeigt.

Besonders beeindruckend ist das Mappenwerk „library of earth colours“, an dem de Vries von 1993 bis 2005 gearbeitet hatte. An verschiedenen Orten der Welt hat er Erde gesammelt und sie ganz systematisch, fast wie ein Wissenschaftler seine Proben, im Rechteck auf Papier aufgetragen. Uns bleiben nun die Farben zum Vergleich.

„Herman de Vries“: Weserburg, Ausstellung bis 21. Oktober

Der Autor ist Inhaber der Galerie K’in Bremen