Lebensretter Literatur

Nachdem Christian Kracht in der ersten Poetikvorlesung an der Goethe-Universität vom Missbrauch berichtet hatte, der an ihm begangen wurde, spricht er nun über Musik und Bücher als Panzer und Weltenöffner

Christian Kracht, Aufnahme von 2015 Foto: Boston University

Von Arno Frank

Hell war die Aufregung, als Christian Kracht vom sexuellen Übergriffen sprach, denen er als Kind in einem kanadischen Internat ausgesetzt war. In seiner ersten Poetikvorlesung an der Goethe-Universität in Frankfurt hatte er geschildert, wie ihn ein Pastor damals „gezüchtigt“ habe, mit dem Gürtel: „Ich hörte ihn leise stöhnen, und ich muss heute annehmen, dass er sich hinter mir stehend, sein Schlagwerk und den schmächtigen, nackten Knaben vor sich gebeugt betrachtend, selbst befriedigt hatte.“

Licht ins Dunkel sollte die zweite Vorlesung bringen.

So richtig brechend voll, mit Leuten im Schneidersitz auf den Gängen und Zuspätgekommenen an den Wänden, so richtig brechend voll ist es nicht – und doch ist das auf 1.200 Plätze ausgelegte Audimax am Campus Westend beinahe voll ausgelastet. In den vorderen Reihen hat sich geschlossen das Feuilleton der Republik versammelt, dazu Prominenz aus dem Verlagswesen, man kennt sich, grüßt familiär. Ist gespannt. Wird er den Bluff auflösen? Die Erzählung weiterspinnen?

Kracht hat sich, das wird an diesem zweiten Tag klar, in Vorbereitung auf seine Dozentur einer schmerzhaften Befragung unterzogen. Wie wurde, was ich bin? „Coming of Age“ im erinnernden Nachvollzug, deren Ziel ein Selbstporträt sein wird, das dem offiziellen Heldenfoto gar nicht mal so unähnlich ist.

Spürbar wird die Qual an der Wohlstandsverwahrlosung. Als Sohn eines wichtigen Managers beim Axel-Springer-Verlag wächst Kracht in der Schweiz auf, wo Prominente wie Otto Graf Lambsdorff (FDP) oder der „Heilpraktiker“ Manfred Köhnlechner sich die Klinke in die Hand geben und mit seinem Vater „etwas aushecken“ wie „Vorstadtkriminelle“. Dieser sammelt Expressionisten, Emil Nolde, Karl Schmidt-Rottluff, und hortet sie unter seinem Bett. Den Missbrauch in Kanada glaubt ihm nicht einmal die Mutter. Sie behauptet, er habe das zu seiner Rechtfertigung erfunden. Kracht, noch immer ungläubig: „Zur Rechtfertigung wofür?“

Vor allem aber ist an diesem zweiten Tag die Rede von der Rettung, und die verspricht das „pathologische Schauen von TV-Serien“, das Mad-Magazin, Devo – und die Literatur. Zunächst sind das „die bürgerlichen und ganz und gar erfreulichen Bücher“ im heimischen Regal, Simmel, Mann, Marquez, aber auch, mit elf Jahren, die eskapistischen Welten eines J.R.R. Tolkien. Mehr noch als Fantasy aber beeindruckt Kracht die Entdeckung ihrer parodistischen Veralberung in einem Büchlein namens „Bored Of The Rings“ („Herr der Augenringe“).

Auch im Schloss Salem, das Kracht besuchte und das er als „dystopische Sammelstelle“ beschreibt, habe es sexuellen Missbrauch gegeben: „Aber nicht an mir, also habe ich weggesehen.“ Dort im Internat habe es dafür „einen guten Lehrer“ gegeben, aus Wisconsin, der ihm den Kanon nahegebracht habe, Saul Bellow, Gertrude Stein, V. S. Naipaul, James Baldwin. Eine ähnliche Funktion wie früher Tolkien erfüllt bald Thomas Pynchon: ein Panzer, den der junge Leser vor dem Herzen trägt.

„Kunst kann eine Heilung für den Missbrauch sein“

Christian Kracht

Panzer wogegen? Hier blitzt wieder der Dandy auf und erklärt sich selbst. Die Belesenheit distinguiert ihn von den verachteten Mitschülern, die „Saint-Tropez oder St. Moritz“ den Vorzug gegeben hätten vor der „riesigen, herrlichen Gelegenheit“, in die angelsächsische Literatur einzutauchen – unter Anleitung des „guten Lehrers“, vor dem er sich „nach 35 Jahren“ verbeugt, indem er nun ein komplettes Gedicht („The Love Song Of J. Alfred Prufrock“) von T. S. Eliot im Original zum Vortrag bringt.

Womit das zentrale Paradoxon erreicht ist. Einerseits ist Literatur eine ernste, lebensrettende Sache. Andererseits gibt alles, was „kanonisch“ ist, „sich selbst frei für die Parodie“. Wie also kann der würdevolle „Herr der Ringe“ mit seinen eskapistischen Segnungen vom bedürftigen Leser weiter ins Anspruch genommen werden, nachdem er vom „Herrn der Augenringe“ ins Lächerliche gezogen und damit dementiert worden ist?

In seinen Texten löst Kracht – nach eigener Lesart – dieses Paradoxon auf, indem er kognitive Dissonanzen einstreut, die er „Quantenverschränkungen“ nennt oder auch „Quantenpseudotelepathie“. Als Beispiel dient ihm die Kamerafahrt in „Marie Antoinette“ von Sofia Coppola, wo unter den Schuhen der Königin plötzlich „ein Paar Chuck’s“ auftauchen.

Eine homöopathisches Quantum surrealer Splitter hier und da, um den Ernst der Kunst zu bewahren. Das ist notwendig, meint Kracht und stellt mit rührend romantischer Gewissheit fest: „Kunst kann eine Heilung für den Missbrauch sein.“