Theater Lübeck inszeniert Klassenverrat

Die Hamburger Regisseurin Friederike Harmstorf bringt Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ auf die Bühne. Sie greift zu einem Trick, um den Diskurs bühnenfähig zu machen

Im Lübecker Diskurstheater: Andreas Hutzel (vorn) und Robert Brandt sinnieren über die Emanzipation Foto: Marlène Meyer-Dunker

Von Jens Fischer

In seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ seziert der französische Soziologe Didier Eribon das Herz des von Populismus und Nationalismus heimgesuchten Europas. Er entdeckt ein hohes Infarktrisiko. Insbesondere wirft er der Linken vor, sich ihrer Klientel entfremdet zu haben. Das Theater Lübeck hat seine Thesen jetzt auf die Bühne gebracht.

Didier Eribons sozialwissenschaftlich-autobiografisches Buch bedient sich keiner Empört-euch-Sprache. Vielmehr ist es von spröder, mauliger Intellektualität. „Da springen einen keine Figuren an, da schreit nichts nach Theater, es muss aber unbedingt darüber nachgedacht werden, wie Eribon den politischen Rechtsruck erklärt, also gehört der Text auf die Bühne“, erklärt die Hamburger Regisseurin Friederike Harmstorf.

Mit ihrem Inszenierungsteam des Lübecker Theaters erkundete sie das Thema vor Ort. Etwa im tristen Stadtteil Buntekuh: viel Arbeitslosigkeit, hohe Kriminalitätsrate, reichlich Migrationshintergründe, heißt es. Passend dazu Eribons Behauptung: „Die Lage in diesen urbanen Ghettos ist das perfekte Beispiel dafür, wie man mit einer gewissen Bevölkerungsgruppe umzuspringen pflegt, die man im gesellschaftlichen und politischen Leben an den Rand drängt, in Armut, Prekarität und Perspektivlosigkeit.“

Inszenierungsteam recherchiert im Ghetto

Diese abgeschlossene, abgehängte Siedlung habe bei ihr denselben Impuls angeregt wie Eribons Auseinandersetzung mit den Banlieues, sagt Harmstorf: „Es macht mich wütend, dass sich niemand um die Menschen dort kümmert.“ Aber das per Recherchetheater mit Eribons Analysen abzugleichen, wollte sie nicht. „Das wäre zu überbordend geworden, wichtiger ist, das in Schleifenbewegungen funktionierende Denken des Autors erst mal auf den Punkt zu bringen.“

Also auf gar keinen Fall soll emotional angedockt werden an die Geschichte – wie der Star der Pariser Intelligenzia nach Jahrzehnten vermiedenen Kontaktes wieder ins proletarisch geprägte Elternhaus einkehrt. Harmstorf will das so sachlich inszenieren wie Eribon über die Rückkehr schreibt: „Es tritt dann etwas ins Bewusstsein, wovon man sich gerne befreit geglaubt hätte, das aber unverkennbar die eigene Persönlichkeit strukturiert: das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen und doch in allem, was man ist, koexistieren.“

Zu lernen ist: Auch ein superkluger Kopf kann Spuren der Sozialisation nicht verleugnen, was Eribon seiner Karriere zuliebe lange versuchte. Als erwachsener Linker habe er die Arbeiterklasse offiziell glorifiziert, inoffiziell aber als kulturfernes Milieu voller Ressentiments, voll tief sitzendem Rassismus, Neid getriebenem Materialismus und gewalttätigem Männlichkeitskult verabscheut, ja, sich für seine Herkunft geschämt.

Und wie sieht das nun auf der Bühne aus? Harmstorf durchforstete die Vorlage, aber auch Interviews sowie andere Werke Eribons und versammelte unter Überschriften wie „Front National“ ein Best-of der dazu passenden Lieblingszitate – ohne sie groß zu dramatisieren. Die vier Top-Mimen des Hauses – Robert Brandt, Jan Byl, Matthias Herrmann, Andreas Hutzel – entwickeln damit dann auch kein vitales Bühnenpersonal, sondern sprechen klar und deutlich die notierten Sätze und wechseln sich dabei ab.

Immer wieder Gesinnungsapplaus

Um mehr als eine auswendig gelernte Lesung anzubieten, absolvieren sie dabei das Ritual eines Tagesablaufs: aufstehen, rasieren, anziehen. Der offene Kammerspielraum prunkt mit dunkel lasierten Holzschrankquadern in deprimierendem Nachkriegswohnzimmerdesign – das ja Ausgangs- und auswegloser Endpunkt der Selbstbefragung Eribons ist: sein Elternhaus bei Reims.

Gebannt verfolgen die Zuschauer die Äußerungen, beängstigend nah scheinen sie aktuellen Diskursen, sodass die Aufführung mehrmals mit Gesinnungsapplaus unterbrochen wird – wenn etwa die Rede davon ist, wie die Linke ihr Klientel verraten hat. Es ist leicht von den angesprochenen französischen Verhältnissen auf Deutschland zu schließen und an die Agenda 2010 der SPD zu denken.

Abgrenzung von der Berliner Schaubühne

Die Inszenierung selbst wird nie konkret. Ihre Ästhetik ist auch dem großen Erfolg geschuldet, der Thomas Ostermeiers Adaption an der Berliner Schaubühne zuteil wurde, gerade auch beim Berliner Theatertreffen. „Ich habe die Produktion gesehen und mir war klar, dass ich als Zweite, die den Stoff inszeniert, eine ganz andere Herangehensweise wählen muss“, sagt Harmstorf.

Ostermeiers Clou: Mit dem Autor und einem Filmteam noch einmal in Eribons Vergangenheit gereist zu sein – bis dieser mit seiner Mutter wieder an einem Tisch sitzt. Der mit reichlich szenischen Eindrücken trostloser Vorstädte und historischen Aufnahmen aufwartende Dokumentarfilm ist nun in einem Tonstudio-Bühnenbild zu sehen, in dem Nina Hoss als Sprecherin den Eribon-Text unter die Bilder legt und immer mal wieder mit dem Regisseur diskutiert. Szenisch reizvoll, inhaltlich bereichernd.

Aber wie damit umgehen, wenn die anfängliche Verständnislosigkeit über die Siege Le Pens, oder die AfD-Erfolge, in ohnmächtige Wut kippt, wenn gerade die Deklassierten der Vorstädte nicht mehr sozialistisch oder kommunistisch wählen? „Ich war ein Egoist, was wäre gewesen, wenn ich mich um meine Familie gekümmert hätte?“, notiert Eribon. Er macht sich in solch selbstkritisch versöhnlichen Momenten auch immer mal wieder sympathisch, bleibt aber deutlich und kritisiert, dass die linken Parteien von der Sprache der Regierten zum neoliberalen Jargon der Macht gewechselt wären. Sie hätten nicht mehr gegen ausbeuterische Gewalt und Unterdrückung, sondern von Eigenverantwortung, notwendigen Reformen und der Umgestaltung der Gesellschaft gesprochen.

„Das habe ich sofort verstanden“, sagt Harmstorf. „Den Menschen ging das politische Sprachrohr verloren, sie fühlen sich nicht mehr vertreten und versuchen das Vakuum anders zu füllen.“ – Mit neuer Ausgrenzung, denn Aufwertung des Selbst durch Abwertung von anderen gehört schon immer zur Identitätsbildung. Aus Arbeiter-, Links- und Gegen-Kapitalismus-Sein wurde Franzose-Sein zur Sinnstiftung – und die neue Rechte bot sogleich Geflüchtete als Hassobjekt an, die für alle möglichen Übel verantwortlich gemacht wurden.

Eine andere Demokratieals Ausweg

Was nun? Eribon formuliert es nicht. Aber Ostermeier öffnet seine Inszenierung ins Positive, indem er Nina Hoss über ihren Vater schwärmen lässt. Willi Hoss, einst Schweißer bei Daimler und Gewerkschaftler, saß als Mitbegründer der Grünen im Bundestag und wurde nach all den Enttäuschungen ein Kämpfer für die Ureinwohner und den Regenwald in Brasilien. Es geht also auch anders, lautet die Botschaft. Es ist möglich, seine Herkunft zu überwinden und dabei seine Würde und seine Ideale zu behalten.

Harmstorf will natürlich auch nicht in Resignation enden, und lässt als Aufbruchstimmungsfunken einen Brief des belgischen Historikers David van Reybroucks an EU-Präsident Jean-Claude Juncker vorlesen. Darin wird als Therapie für das diagnostizierte Demokratie-Müdigkeits-Syndrom eine weniger repräsentative, eher partizipative Demokratie athenischer Schule vorgeschlagen: „Die Idee besteht darin, dass ein zufällig ausgewählter Teil der Bevölkerung sich schlau macht und dann eine sinnvolle Entscheidung fällt. Ein Querschnitt der Gesellschaft, der informiert ist, agiert vernünftiger als eine ganze Gesellschaft, die nicht informiert ist.“

Das wird in Irland schon praktiziert. 100 per Los in eine Bürgerversammlung gewählte Menschen erarbeiten Vorschläge, die in nationalen Referenden abgestimmt werden. Viel Applaus gibt es in Lübeck für diese Idee.

Fr, 25. 5. und So, 17. 6., 20 Uhr, Theater Lübeck, Junges Studio