„Schönheit ist politisch“

Die New Yorker Journalistin Melissa Drier ist eine Berliner Sensation. Denn als Vorhut der internationalen Modeszene steht sie dafür, dass die deutsche Hauptstadt diese doch interessiert

Melissa Drier, zu Hause in ihrer Wohnung in Berlin-­Kreuzberg Foto: Matti Hillig

Von Marina Razumovskaya

Auf Berliner Modeschauen sitzt in der ersten Reihe immer eine Dame: In sehr weiblichen Kleidern, X-Silhouette, ein klein wenig 50er Jahre. Wenn alle längst ihre Handys gezückt haben, sitzt sie, Beine übereinandergeschlagen, Block auf den Knien und schreibt. US-Modejournalistin Melissa Drier ist aus der Berliner Modeszene nicht wegzudenken.

Sie ist Deutschland-Korrespondentin von Womens Wear Daily. The Retailer’s Daily Newspaper, kurz: WWD. Das legendäre Organ, oft „the bible of fashion“ genannt, ist weniger Modezeitschrift als Fachmagazin der Modeindustrie mit einer Leserschaft, die Einzelhändler, retailer, Designer, Fabrikanten, Finanzdienstleister, Werbeagenturen, aber auch socialites und Trendsetter umfasst. Auf welchen Grad der Informiertheit das Branchenmagazin besteht, macht der Fakt deutlich, dass Melissa Drier seit den späten Achtzigern Modeleuten in den USA und der ganzen Welt die Lage der deutschen Mode erklärt. Ihr Blick kommt also von weit her ­– und ist ein Blick aufs große Ganze.

Großvater Schnittmacher

Melissa Drier ist in New York aufgewachsen. Im Gespräch in ihrer Kreuzberger Wohnung, erklärt sie, schon mit 14 habe sie diese Idee mit der Mode gehabt. Ihr Großvater war Schnittmacher für luxuriöse Damenmode. Anfang der Siebziger war da plötzlich dieser politische Wind und alles kam anders. Sie studierte „intellectual history“, dachte, eine akademische Laufbahn einzuschlagen, wusste aber immer weniger, was sie wollte. Eine Freundin, die bei YSL arbeitete, habe sie wieder an ihre kindliche Leidenschaft erinnert. Ein Jahr verbrachte sie dann bei einem japanischem Stoffhändler. Erste journalistische Erfahrungen sammelte sie als Redaktionsassistentin. „Meine Mentoren haben mich stets ermuntert: Schultern gerade und durch! Learning by doing. Sie sagten, ich solle Interviews machen auf den Fashion Weeks. Auf einmal bekam ich die Möglichkeit, wen immer ich wollte zu interviewen. Und ich hatte das Gefühl, das kann ich, und ich habe eine Art Instinkt dafür.“ Ihre Artikel für WWD aus Deutschland präsentieren nicht so sehr Einzelkollektionen oder Designer, sondern große Trends, Geschäftsstrukturen, Marktentwicklungen, Strategien, Ausblicke auf Messen, Bilanzen, Käuferverhalten. Und wenn Drier dann für die große Welt der Fashion Weeks berichtet, bekommt man ein Gefühl für diese andere Dimension. 2016 etwa: weltweit düstere Prognosen, seit Jahren beobachtet sie, wie Discounter dem Einzelhandel das Leben schwer machen. Ist da nicht zu erwarten, dass das Interesse an heimischen Designern sinkt? Aber das Gegenteil ist der Fall. Sie nennt es „Reinvention in Berlin“ und sieht: 50 Shows, acht Modemessen, Modesalon, Mercedes-Benz. Aufs Ganze aber ist Berlin – berühmt für seine Messen, nicht wie Paris für seine Modeschauen – für die großen Labels auf dem Weg nach New York, Mailand, Paris nur die erste Station im Modezyklus des Jahres, ein erster Testlauf. Da nimmt man auch die eher magere Bestellungslage in Kauf.

Gerade der Blick der Geschäftsfrau macht Drier neugierig und sensibel für neue Tendenzen. Wo Mode-Salon und Mercedes-Benz auf eher klassische Weise Kollektionen und ihre Designer*innen präsentieren, da geht Drier zur „Panorama Nova“ und schaut, welche Strategien und neue Umsetzungen dort zu beobachten sind. Etwa der Trend der concept stores, die keine Kollektionen verkaufen, sondern einen ganzen Lebensstil, von der Butterdose übers Sofa bis zu Strumpf und Abendkleid. Berlin ist mit The Corner, The Store, Andreas Murkudis und seiner speziellen Ader für Urban­ Wear und Streetwear in Deutschland ein Vorreiter dieser neuen Formen der Mode. Einmal beruft sich Drier auf Thomas Martini von der Premium Exhibitions Group: „Wir versuchen zu zeigen, wie Lifestyle gelebt wird. Das ist essenziell für Streetwear.“ Als Echo des Start-up-Hypes sozusagen kommt dazu der Trend der pop-up stores, jener Modegeschäfte in leeren, oft zwischengenutzten Räumen, die nach ein, zwei Monaten schon wieder verschwunden sind. Solche Tendenzen interessieren Drier in ihren Artikeln. Was macht das mit der Mode? Mit ihren Kund*innen? Mit der Mode als Teil von identity politics?

Dann aber bedient Drier auch das klassische Genre und bespricht einzelne Kollektionen, stellt Designer*innen vor. Darin stecke, so sagt sie, eine große Verantwortung. Einmal habe sie über eine Einzelhändlerin geschrieben, auf eine clevere, aber nicht ganz faire Weise. „Ich war verletzend und die Frau ist ausgeflippt, hat mich angeschrien.“ Das habe viel mit der allgemeinen Lage zu tun. Es werde schwerer, überhaupt noch jemanden zu kritisieren. Was zähle, sei der kleinste gemeinsame Nenner. Für jede Gruppe ein anderer. Du kritisierst mich? Dann gehörst du halt einer anderen Community an. Aber viele Designer, über die sie Kritiken schrieb, seien später ihre besten Freunde geworden. Der kritische Blick sei wichtig, um sehen zu lernen. „Use your eyes“, sagt sie immer wieder. Und man müsse ein bisschen besser sehen, als es der Designer selbst es kann, weil der ja weniger Abstand zum eigenen, immer unter Zeitdruck zustande gekommenen Entwurf hat.

Sinnliche Erfahrung

Sie erzählt von einem Newcomer, inzwischen ein bekannter ­Designer: „Ich hatte viel von ihm gehört, viele lobten ihn und ich wollte etwas über seine erste Show schreiben. Aber als ich seine Sachen und Teile der Kollektion kennenlernte, bezweifelte ich, dass daraus je etwas werden könnte. Ich wusste, wenn ich das schreibe, werde ich ihn killen. Es dauerte etwas, bis ich ihn in seinem Atelier besuchen konnte, einem winzigen, vollgestopften Raum, für den er sich schämte, wo er hypernervös herumwirbelte. Jetzt konnte ich seine Sachen wirklich sehen, erfahren, wie sie entstehen, wie sie gemacht sind. Da veränderte sich mein Bild von seinem Talent. Ohne sinnliche Erfahrung kann man schwer eine Kollektion beurteilen. Und umgekehrt braucht ein Designer Raum und Zeit, um etwas zeigen und präsentieren zu können.“

„Meine Mentoren haben mich stets ermuntert: Schultern gerade und durch!“

Gerade im Zeitalter des Onlinehandels und technischer, undefinierbarer Stoffe beharrt Drier auf Haptik und Berührung. Es gebe, klagt sie, viele spektakuläre Bollywood-­Effekte, aber zu wenig edle Stoffe – zu teuer. Firmen, die deutsche Designer unterstützen? „Nicht so richtig, immer wieder gibt es Projekte, ein paar Schweizer Firmen, aber das sind alles Einzelfälle.“ Drier ist seit einigen Jahren auch Expertin in der Jury der Woolmark Company, einer Tochtergesellschaft der Australian Wool Innovation. Die Non-Profit-Organisation fördert die Vermarktung von australischer Wolle, engagiert sich aber auch für Materialforschung und innovative Wollkonzepte.

Mode ist für Drier freilich nicht nur eine Sache von Jurys und Messen. Mode ist Ausdruck, wird getragen, ausgetragen. Ihre wichtigsten Beobachtungen macht Drier auf der Straße, im Bus, auf Events. „Das tut mir weh, wenn ich Leute sehe, die nur tolle Namen tragen, aber keine Ahnung haben, was für sie gut ist: falscher Rock, falsche Schuhe … Es ist nicht unmöglich, Geschmack zu haben.“

Doch wenn niemand Interesse an Schönheit hat? Wirklich gut angezogen zu sein, das kostet viel Zeit. Wer schnell aus dem Haus muss, schlüpft kurz in „Uniform“. (Eine wirkliche Uniform hat Drier draußen in ihrem Gartenhaus.) Sie beklagt, dass man früher mehr sehen konnte. Die Leute heutzutage: „They don’t care.“ Schönheit ist außer Reichweite, sie spielt in Zeitschriften, im Kino, das meiste kann man sich nicht leisten. Ist dann Mode überhaupt noch relevant? Is fashion relevant?

Drier sitzt im ICE, draußen der zauberhafteste Sonnenuntergang, aber die Leute ziehen die Jalousie runter, schauen ins Handy und verpassen den Regenbogen … Und dann der Satz: „Schönheit ist politisch.“ Ihre Antwort auf die Frage: Is fashion relevant?, heißt darum: „How to make it relevant? Man muss den Leuten zu dem verhelfen, was schön ist.“ Und das gelbe Kleid mit Elefantenmuster, das sie kürzlich auf einem Spaziergang in Charlottenburg gesehen hat, es hatte so viel Elan, es kostete soo viel Geld …