Von Dulsberg lernen

Vor 100 Jahren präsentierte Oberbaudirektor Fritz Schumacher, wie er sich einen neuen Stadtteil in Hamburgs Nordosten vorstellte. Das wird jetzt gefeiert

Nachkriegskinder in Bewegung: Die Rollerbahn im Dulsberger Grünzug 1953 Foto: Denkmalschutzamt

Von Alexander Diehl

Fritz Schumacher war entsetzt: „Schauder“ erregend sei die Planung für den heutigen Stadtteil Dulsberg gewesen, als er sie 1918 zu Gesicht bekam, das schrieb er später in seinem Buch „Das Werden einer Wohnstadt“ (1932). 1918 war Schumacher seit gut neun Jahren Hamburgs Oberbaudirektor, und es mag sich auch aus einer gewissen Sicherheit im Sattel erklären, dass er dort, östlich von Barmbek, offenbar Schlimmeres verhinderte: „Ein Gebiet, das der Einwohnerzahl nach etwa der Stadt Ulm gleichkommt, sollte nur einen einzigen Grünfleck haben, der unbegreiflicherweise mitten im Zug einer Ausfallstraße geplant war.“

Stattdessen entstand dort etwas, das in vielerlei Hinsicht bis heute nicht übertroffen worden ist: ein Wohn- – und, deutlich nachrangig, auch anderen Nutzungen offenes – Quartier, durchaus heterogen, was die Gebäudegestaltung angeht, denn es waren diverse Architekten beteiligt; aber doch aus einem planerischen Guss.

Auch Dulsberg, dieses einst vielleicht reinste Beispiel der Schumacher’schen Ideale, trägt Spuren des Zweiten Weltkrieges. Längst existiert nicht mehr alles so, wie es um 1930 herum errichtet worden war; andererseits suchte die Stadt beim Wiederaufbau durchaus die alte Ästhetik zu wahren.

Bis 1951 zu Barmbek gehörend, zählt der einst für mehr als 40.000 Bewohner angelegte Stadtteil heute zu Hamburgs kleinsten: 1,2 Quadratkilometer Fläche, 17.326 Einwohner. Während aber etwa die Jarrestadt, Dulsberg in puncto Entstehung und Ästhetik nicht unähnlich, in der jüngsten Vergangenheit zur begehrten, entsprechend eingepreisten Wohnlage wurde, wird das heutige Dulsberg wohl vor allem als Lieferant schlechterer Nachrichten wahrgenommen. Der Fotoserver der dpa etwa spuckt vor allem Blaulicht-Krams aus: Tatorte, Polizisten an Tatorten oder Polizisten, die mit der 3-D-Kamera Einschusslöcher ablichten – an Tatorten.

Wer will, kann sich diesen höchst oberflächlichen Eindruck pseudo-erklären lassen von entsprechend gelesener Statistik: Der „Ausländeranteil“ lag 2016 mit 21 Prozent gut vier Punkte über dem Hamburger Durchschnitt, die Arbeitslosenquote mit knapp 9 Prozent ebenfalls deutlich über den stadtweiten 5,3 Prozent; dafür unterschreitet das durchschnittliche Einkommen je steuerpflichtigem Dulsberger – 2013 betrug es 21.239 Euro – signifikant den Hamburger Schnitt von etwas über 39.000 Euro.

Jubiläumswochen „100 Jahre Schumacher – Stadtplanung für den Dulsberg“, organisiert von Roger Popp (Geschichtsgruppe Dulsberg) und Jürgen Fiedler (Stadtteilbüro Dulsberg): ab 3. 6.

Auftaktveranstaltung (u. a. mit Oberbaudirektor Franz-Josef Höing): So, 3. 6., 14 Uhr, Frohbotschaftskirche, Straßburger Platz

Eröffnet wird dabei eine Ausstellung im öffentlichen Raum: Die Schumacher’sche Planung zeichnen 20 Stelltafeln nach: Friedrichsberg, Probsteier Platz; Straßburger Straße; Grünzug Ring 2; Alter Teichweg/Gravensteiner Weg

Vorgestellt werden am Sonntag auch drei neue Publikationen zum Dulsberg:

Roger Popp: „Fritz Schumacher und der Dulsberg“ (Dölling & Galitz, 152 S., 150 Abb., 29,90 Euro)

Daniela Schmitt, Joachim Schniter, Christoph Schwarzkopf: „100 Jahre Siedlung Dulsberg. Fritz Schumachers reformierter Plan für Neues Wohnen“ („Hamburger Bauheft“ # 24, Schaff-Verlag, 56 S., 9 Euro)

Bezirksamt Hamburg-Nord (Hrsg.), Joachim Schnitter: „Grünzug Hamburg-Dulsberg 1918–2018“ (erhältlich u. a. im Bezirksamt Nord, Kümmellstraße 5­–7)

Vielleicht geht es also auch ein bisschen darum, dem Rest der Stadt zu zeigen, was ist, wenn man nun erinnert an das, was war: Ab Sonntag wird im Stadtteil an 100 Jahre seit Schumachers Plänen erinnert, mit Oberbaudirektor Franz-Josef Höing ist auch der amtierende Schumacher-Nachfolger angekündigt. Konzipiert hat das Programm der Architekturhistoriker und passionierte Dulsberger Roger Popp sowie Jürgen Fiedler vom Stadtteilbüro: Es ist also durchaus eine Erinnerung von unten, für die aber neben dem Bezirksamt Nord auch ein Dutzend Dulsberger Vermieter, also Wohnungsunternehmen und -genossenschaften sowie die Hamburger Sparkasse als Sponsoren zu gewinnen waren.

Zuletzt, schreibt Popp in seinem soeben aus dem Druck gekommenen Buch zum Viertel (siehe Kasten), habe auch Hamburgs Planung für ein Olympisches Dorf auf dem Grasbrook Spuren von Schumacher an sich gehabt: „So durchzieht auch dort ein zentraler Grünzug das Dorf, dem sich beidseitig Wohnblöcke, die Verkehrsachsen und eine weitere Reihe Wohnblöcke anschließen.“ Wo freilich Schumacher „den Gebäuden einen menschlichen Maßstab zu verleihen“ suchte, plante man 2015 „durchweg sechsgeschossig“ – Schumacher dagegen hatte einst verlangt, dass auch das flächenmäßig natürlich begrenzte Hamburg sich „beim fünften Geschoss aus sozialen und hygienischen Gründen eine Grenze“ setzen müsse.

Überhaupt, was die Aktualität des Damaligen angeht: Wirtschaftliche Interessen und die Bedürfnisse von Mietern, Nachverdichtung versus Grünflächen und ein explodierter Bedarf an Dächern über die Köpfe, auch wegen „Flüchtlingsströmen“ – Zutaten, wie sie heute wieder vertraut klingen. Bräuchte Hamburg, diese wachsende Stadt, in der die Immobilienpreise seit Längerem einen Rekord-Höhenkamm entlangkraxeln, diese angebliche Mieterstadt, in der Mieter keine Wahl zu entscheiden scheinen, in der sozialdemokratische Verantwortliche ärmeren Menschen auch wieder etwas lautere, etwas mehr die Gesundheit schädigende Wohnlagen zumuten möchten: Bräuchte diese Stadt vielleicht wieder einen wie Schumacher?