Auf dem Pferd bis zu den Außerirdischen

Musik als Erinnerungsmaschine: die wunderbare Song-Revue „Ballroom Schmitz“ im Berliner Ensemble

Clemens Sienknecht Foto: Matthias Horn

Von Katrin Bettina Müller

Wie hat es Retro – der Look, der Schick, die Musik, der Geist – eigentlich geschafft, sich vom Muff und Mief der Rückwärtsgewandtheit zu befreien? Die Liebe zum Vergangenen zu kultivieren; was daran Negatives klebt, aber von sich abzustreifen? Mit Ironie vermutlich, aber reicht das? Der „Ballroom Schmitz“, den im Berliner Ensemble ein Team um Clemens Sienknecht und Barbara Bürk auf die Bühne bringt, ist ein guter Ort, darüber nachzudenken.

Oh, was wird hier schön gesungen, a cappella, solo und im Background, Songs von früher (1970er/80er), noch früher und viel früher (da ist man schon im Mittelalter). Manchmal sind sie im Text etwas umgedichtet und instrumental neu aufgestellt, zum Beispiel für zwanzig Zentimeter breite Miniklaviere, gelochte Papierstreifen und Ätherwellengeige, auch als Theremin bekannt. „Man in the mirror“ von Michael Jackson ist darunter, Nico Holonics lässt dazu seine grauen Locken im Wind fliegen, „Angie“ von den Stones, „With a little help from my friends“ von Ringo Starr, für das alle zusammenkommen.

Eine akustische Erinnerungsmaschine ist der Abend gewiss, aber das allein macht noch kein Theater. Eingebettet sind die musikalischen Szenen in eine als Radioshow verkleidete biografische Erzählung über Bernhard Schmitz, Künstler, Ausdruckstänzer, Erfinder von elektrifizierten Musikinstrumenten, Radiopionier, dessen Verbindungen bis zu den Außerirdischen reichen. Seine Biografie, in kleinen Häppchen erzählt, beginnt, als der 1891 im Bergischen Land geborene Junge, mit zehn Jahren beschließt, nach Amerika abzuhauen, auf einem weißem Pferd und vierzig Kilometer weiter müde vom Gaul fällt.

In seiner unglücklichen Kindheit hätten spätere Biografen den Motor für sein künstlerisches Schaffen gesehen, erfährt man bald von einem der fünf Erzähler auf der Bühne, übrigens alle Schmitz-Nachfahren. Was sie ins Mikro hinein erzählen, ist einerseits oft Parodie einer glühenden Künstlerverehrung und Überhöhung des ­Genies, ein skurriles Spiel mit der Künstlerfigur als Ausnahmegestalt, eingebunden aber stets in die staubige Alltäglichkeit, die das Bühnenbild zelebriert. Andererseits ist die Lebenslinie von Bernhard Schmitz an die vieler Künstler des frühen zwanzigsten Jahrhunderts angelehnt, an Ausdruckstanz, frühes Radio, das Anecken bei den Nazis, Emigration, Scheitern in Las Vegas, Rückzug, Wiederentdeckung in den 60er Jahren durch die Popkultur. So ist, was erzählt wird, stets in mehr als einen Zeitraum eingebettet und das gibt der Sache Pfiff.

Vor allem aber ist es die schauspielerische Interpretation des Singens, die dem Nacheinander der Nummern die Aufmerksamkeit sichert. Man meint fast zu sehen, wie schon vor dem ersten Ton das Lied im Körper des Sängers oder der Sängerin arbeitet, wie es mit durchaus erotischer Macht ihren Körper von den Zehenspitzen bis in die Ohren durchrollt. Das Alberne und die Sexiness kommen dabei immer wieder zusammen, man rezipiert als Zuschauer nicht nur den Song, sondern auch die Transformation des Körpers im Singen.

Solche Feinheiten machen die Arbeit von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk aus, die im Format einer Radioshow schon mehrere Theaterabende gestaltet haben. Ein Höhepunkt der gemeinsamen Arbeit war sicher „Effie Briest – allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie“ vor drei Jahren, weil sie da nicht nur den Roman erzählten, sondern auch seine Rezeption mit Humor und List. So tief schürfend in deutscher Kulturgeschichte ist der „Ballroom Schmitz“ zwar nicht, aber trotzdem sehr empfehlenswerte Unerhaltung.

Wieder am 31. Mai, 4. und 8. Juli am Berliner Ensemble