Wie geflutscht

Ein Spiel, vier Spieler: Wie Real Madrid das Finale der Champions League mit 3:1 gegen den FC Liverpool gewonnen hat

Bitte, vergebt mir! Liverpool-Keeper Loris Karius auf seinem tränenreichen Canossagang zu den eigenen Fans Foto: Imago

Der Kokette: Ronaldo

Kann es so etwas geben? Ein Champions-League-Finale mit Real Madrid, bei dem Cristiano Ronaldo allenfalls zur Wahl für die beste Nebenrolle kandidieren könnte? Bis kurz nach dem Abpfiff sah es ganz danach aus, doch dann brachte sich Ronaldo derart ins Gespräch, dass sein Trainer Zinédine Zidane bei der Sieger-Pressekonferenz darum bitten musste, man sollte doch bitte die Aufmerksamkeit ausschließlich auf die große Teamleistung des Abends richten.

Imperfekt als Auslöser

Ein einfacher Imperfekt hatte die ganze Aufregung ausgelöst. „Es war sehr schön, bei Real Madrid zu spielen“, hatte Ronaldo in einem TV-Interview direkt nach dem Spiel­ende gesagt und ein baldiges Statement angekündigt. Im Futur nun wurden allerlei Fragen gestellt: Was wird aus Ronaldo? Was wird aus Real Madrid, wo doch Bale schon seine Abwanderungsüberlegungen bekräftigt hatte und Spieler wie Sergio Ramos (32) und Luka Modric (32) auch nicht mehr die Jüngsten sind? Die Gegenwart, der 13. Titel der Königsklasse, verblasste plötzlich.

Immer wieder wurde der sichtlich überraschte Zidane mit dem Ronaldo-Statement konfrontiert. Der Trainer sagte nur: „Ronaldo muss und wird bleiben.“ Auch Toni Kroos schaute ungläubig, als er erstmals mit der neuesten Nachricht konfrontiert wurde und man von ihm wissen wollte, ob jetzt dieses ruhmreiche Team aus­einanderbrechen würde. „Ich habe davon noch nichts gehört“, sagte er. „Mir geht’s gerade zu gut, als dass ich mich damit auseinandersetze.“ Er habe jedenfalls keine Wechselpläne. Es ist nicht das erste Mal, dass Ronaldo mit einem möglichen Abgang kokettiert. Er prüft bei solchen Gelegenheiten jedes Mal den Stand seiner eigenen Wertschätzung im Verein. Der 33-Jährige ist da recht sensibel. Dieses Mal ist die Sache aber vielleicht etwas ernster. Der Zeitpunkt seines Wertschätzungstests spricht eindeutig dafür.

Am kürzeren Hebel

Ronaldo soll es nicht gefallen, heißt es aus Madrid, dass derzeit Spieler wie Neymar oder Mohamed Salah als mögliche große künftige Real-Stars gehandelt werden. Die Fronten scheinen verhärtet. Mit dem Klubpräsidenten Florentino Perez gebe es nichts zu verhandeln, bekundete er in Kiew. Möglicherweise wäre eine Trennung auf dem absoluten Höhepunkt der Vereinsgeschichte für beide Seiten von einem gewissen Vorteil. Real Madrid könnte den Umbau des Teams voran­treiben und Ronaldo geht als erster Spieler, der siebenmal die Champions League gewann. Sollte Ronaldo seine Karriere bei einem anderen Klub fortsetzen wollen, müsste er bescheiden werden. Welcher Verein baut um einen 33-Jährigen ein Team auf, das die Champions League gewinnen soll? Ronaldo scheint eindeutig am kürzeren Hebel zu sitzen. (jok)

Der Fehlbare: Loris Karius und die Last seiner Patzer

Auf dem Stadionbildschirm konnten die Zuschauer im ­Kiewer Stadion in Nahaufnahme verfolgen, wie Loris Karius nach dem Schlusspfiff weinend mit flehentlichen Gesten den Liverpooler Anhang um Vergebung für seine beiden großen Patzer bat. Die Kameras hatten sich trotz der Veitstänze der Real­-Spieler vor der eigenen Fankurve unerbittlich an ihn geheftet. Beim ersten Treffer von Real hatte er den Ball direkt aufs ausgestreckte Bein des vor ihm stehenden Stürmers Benzema geworfen, von wo aus er ins eigene Tor trudelte. Und beim entscheidenden dritten Treffer boxte er einen direkt auf ihn zufliegenden Distanzschuss von Gareth Bale ins eigene Netz.

Das waren zwei schwerwiegende Fehler, wie sie einem Profitorhüter auf diesem ­Niveau vielleicht in einer Saison unterlaufen – wenn es wirklich schlecht läuft. In einer Partie und in einem Champions-League-Finale gar, das ist bislang schon einzigartig. Zumindest die neutralen Zuschauer in Kiew beschlich eine Ahnung, welch schweren Rucksack der 24-jährige Deutsche in Zukunft mit sich herumschleppen wird.

Nach dem Schlusspfiff drückte ihn die Enttäuschung und Scham erst einmal bäuchlings auf den Boden. Eine halbe Ewigkeit lag er da, von seinen Mitspielern, die jeweils mit ihren eigenen Emotionen zu kämpfen hatten, unbeachtet. Zwei Real-Spieler kamen zuerst zu ihm, darunter Nacho, um ihn wieder aufzurichten.

Hernach fielen dann die Tröstungsversuche von Mitspielern und Trainer Jürgen Klopp äußerst knapp aus. Mitleid wird auf diesem Niveau nicht gern gezeigt. Real Madrids Mittelfeldspieler Toni Kroos sagte: „Ich kann mir vorstellen, wie er sich fühlt. Aber Mitleid braucht er nicht. Das wird in so einer Situation auch keiner wollen. Ich kenne ihn nicht gut, aber ich denke, dass er aus dieser Situation wieder gut herauskommen wird.“ ZDF-Experte Oliver Kahn teilte recht unbarmherzig mit, dass solche Fehler Karrieren zerstören könnten.

All diese Worte illustrieren recht anschaulich, welch eisige Einsamkeit Profis in dieser Branche umgibt, die patzen. Wer sich da zu gefühlig zeigt, hat schon verloren. Besonders einsam sind dabei die Torhüter. Während diese bei Fehlern ihrer Vorderleute immer noch aushelfen können, hilft ihm bei Fehlern keiner mehr. Seine Missgeschicke schlagen sich unweigerlich im Ergebnis nieder.

„Das wünscht man seinem ärgsten Feind nicht“, sagte Klopp am Samstagabend im Olympiastadion von Kiew. Es sei aber jetzt nicht die Zeit, darüber zu reden, das werde man zu einem späteren Zeitpunkt tun. Zumindest stärkt man einem Torhüter so nicht unbedingt den Rücken.

Es ist also fraglich, ob Loris Karius für den FC Liverpool noch einmal auflaufen wird. Sein Standing im Verein war bereits vor dem Finale nicht allzu hoch. Nach seinen ersten fehlerhaften Einsätzen bekam der ehemalige Mainzer Keeper in Liverpool den Spitznamen „Flutschfinger“ verpasst. Weil aber danach Ersatzmann Simon Mignolet noch öfters patzte, wurde Karius wieder Stammtorhüter.

Karius hat sich noch in der Nacht zum Sonntag bei seinen Teamkollegen und den Fans mit einem demütigen Statement entschuldigt. „Es tut mir leid für alle, für das Team, für den ganzen Club. Ich habe sie im Stich gelassen. Diese Tore haben uns den Titel gekostet.“ Ob das so stimmt, ist eher zu bezweifeln. Real hatte das Finale bereits nach dem verletzungsbedingten Ausscheiden von Mohamed Salah recht sicher unter Kontrolle. Man wird nie erfahren, was ohne diese Fehler von Karius passiert wäre. Aber es wird im Bewusstsein der Fans fest verankert bleiben, dass Karius den Champions-League-Sieg verhindert hat. „Es ist das Leben eines Torhüters. Man muss wieder aufstehen“, sagt Loris Karius. Johannes Kopp

Der Zauberer: Gareth Bale

Nach dem Spiel nutzte Bale die Gelegenheit, um seine ungewisse Zukunft bei Real zu unterstreichen

Keine Frage: Es war ein einzigartiger Geniestreich. Drei Minuten war Gareth Bale, der von seinem Trainer Zinédine Zidane notorisch zu kurz gehaltene Überfußballer, auf dem Rasen, da schuf er einen einzigartigen Moment, der formvollendete Perfektion mit Effizienz verband. Nach einer Flanke von Marcelo legte er sich quer in die Luft und traf den Ball per Fallrückzieher zur 2:1-Führung von Real Madrid.

Real wäre aber nicht Real, wenn selbst da nicht Fragen aufkämen. Wie ist das eigentlich? War das Fallrückziehertor nun schöner als das kürzlich im Frühjahr von Teamkollege Ronaldo im Viertelfinale der diesjährigen Champions League bei Juventus Turin erzielte? Oder gar noch schöner als das legendäre Tor, welches Zidane, ebenfalls in einem Champions-League-Finale, in Glasgow damals, im Jahr 2002, gegen Bayer Leverkusen erzielte, als Real ebenfalls den Titel holte? Diese Luxusfragen kamen in den Katakomben des Kiewer Olympiastadions auf. Zidane gab sich großzügig. Er sagte: „Das letzte Tor ist immer das größte.“

Bales Ballvirtuosität kam nicht nur für Real Madrid zum bestmöglichsten Zeitpunkt zur Geltung. Mit Unterstützung von Liverpools Torhüter Karius erzielte er auch noch das 3:1 für die Madrilenen. Der Waliser hätte auch in eigener Sache diesen bestechenden Auftritt nicht besser timen können. Nach dem Spiel nutzte er die Gelegenheit, um seine ungewisse Zukunft bei Real zu unterstreichen. Er werde sich mit seinem Agenten unterhalten. Er wolle jede Woche spielen, bekundete der Angreifer. Und jeder weiß, dass er bei Zidane in dieser Saison vornehmlich einen Stammplatz auf der Ersatzbank hatte.

„Er ist der Spieler, der heute den Unterschied ausgemacht hat“, lobte Zinédine Zidane und zeigte sich durchaus verständnisvoll: „Schon klar, dass er mehr spielen will.“ Der französische Coach warb aber auch um Verständnis für seine Sicht der Dinge. Er habe großartige Profis, die alle spielen wollten. Er versuche, das Beste fürs Team zu tun. Das hat der sprintstarke Bale nun schon allzu oft gehört. Will Real ihn wirklich halten, müssen sie ihm gerade nach dieser gewinnbringenden Vorstellung im Finale mehr bieten.

Der Frust, der sich in dieser Saison bei Gareth Bale aufgestaut hat, war auch nach diesem großen Triumph zu spüren. Dieser sagenhafte Treffer könnte ihm nun vor allem dabei helfen, sich von Real zu emanzipieren. Es werden in den nächsten Tagen gewiss die ersten Angebote für Gareth Bale in Madrid ein­gehen. (jok)