Debatte 25 Jahre nach Solingen: Die Gefahr ist eher größer geworden

Die unmoralische Asylpolitik von 1993 hat Folgen, die bis heute reichen. Rechte Ressentiments sind weit in die bürgerliche Mitte gewandert.

Zwei Männer von hinten vor einem Denkmal und vielen Blumenkränzen

Außenminister Heiko Maas und sein türkischer Amtskollege Mevlüt Çavuşoğlu beim Gedenken an den Anschlag in Solingen Foto: ap

Als am Dienstag bei den beiden Trauerfeiern, die zur Erinnerung an den bis dahin schlimmsten rassistischen Anschlag in der deutschen Nachkriegsgeschichte 1993 in Solingen stattfanden, die offiziellen Reden gehalten wurden, schien es, als hätte sich in diesem Land etwas grundsätzlich geändert. Kanzlerin Angela Merkel war persönlich gekommen, Bundesaußenminister Heiko Maas hielt eine Rede, und der türkische Außenminister Mevlüt Cavuşoğlu war auf persönlichen Wunsch der Familie Genç, deren Angehörige damals in dem Haus verbrannt waren, eingeladen.

Verglichen mit der Haltung der damaligen Bundesregierung, von der vor allem die Bemerkung des damaligen Kanzlers Helmut Kohl hängen geblieben ist, er denke nicht daran, sich an dem „Beileidstourismus“ nach Solingen zu beteiligen, ist die gestrige Gedenkfeier sicher ein enormer Fortschritt. Anders als damals proklamieren die Spitzen von Union und SPD heute zumindest rhetorisch „null Toleranz“ gegen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit. Und anders als vor 25 Jahren, als die CDU türkische „Gastarbeiter“ per Abschiedsprämie wieder nach Hause schicken wollte, hat sich heute auch in weiten Teilen der Union die Erkenntnis durchgesetzt, dass Deutschland ein Einwanderungsland geworden ist.

Es gibt aber auch viele Gemeinsamkeiten mit der Situation vor 25 Jahren. Im Jahr 1992 war, erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, die Zahl der Asylanträge auf fast 450.000 angestiegen. Die Phrase „Das Boot ist voll“ bestimmte die öffentliche Debatte – und die Folgen davon waren in Solingen zu besichtigen.

Der verheerende Brandanschlag, verübt von deutschen Mittelschicht-Neonazis, war ja beileibe kein singuläres Ereignis. Erst fünf Monate zuvor war im schleswig-holsteinischen Mölln ein von türkischen Einwanderern bewohntes Haus angezündet und drei junge Frauen waren dabei getötet worden. Andere Ereignisse wie die Belagerung einer Asylbewerberunterkunft in Hoyerswerda und das Pogrom gegen Vietnamesen in Rostock-Lichtenhagen bestimmten die Schlagzeilen.

Was da unter der Decke schlummerte…

Die Politik reagierte damals auf diese Situation, indem sie eine der wichtigsten moralischen Konsequenzen, die die „Väter und Mütter“ des Grundgesetzes aus dem Faschismus gezogen hatten, ad acta legte. Der Grundgesetzartikel 16, „Politisch Verfolgte genießen Asyl“, wurde praktisch abgeschafft. Eine Koalition aus CDU/CSU, SPD und FDP änderte mit einer Zweidrittelmehrheit das Grundgesetz und schob mit dem Grundgesetzartikel 16a dem Asylversprechen so viele Vorbehalte unter, dass es für einen Flüchtling kaum noch möglich war, in Deutschland Asyl zu beantragen.

Der Mordanschlag in Solingen geschah drei Tage nach der Verabschiedung des „Asylkompromisses“

Der Mordanschlag in Solingen geschah drei Tage nachdem der Bundestag den sogenannten „Asylkompromiss“ verabschiedet hatte. Er war der Höhepunkt und gleichzeitig das vorläufige Ende spektakulärer Anschläge auf Ausländer in Deutschland. Dass die offizielle Politik sich damals mit der rassistischen Stimmung in weiten Teilen der Bevölkerung gemeinmachte und das Grundgesetz änderte, hatte Folgen, die bis heute reichen.

Seit 1993 hat es viele Diskussionen um Integration, offene Gesellschaft und Einwanderung in Deutschland gegeben. Es hat sich einiges verändert, teilweise schien die Akzeptanz für die Pluralisierung der Lebensweisen in Deutschland sogar auf einem guten Weg zu sein. Doch das war eine Selbsttäuschung. Nach knapp zwei Legislaturperioden von Rot-Grün und der nachfolgenden „Sozialdemokratisierung“ der Union durch Merkel erschien 2010 ein Buch, das wie ein Fanal wirkte. Die enorme Resonanz gerade im bürgerlichen Lager auf Thilo Sarrazins schwer verdaulichen Wälzer „Deutschland schafft sich ab“ zeigte, was im vermeintlich „bunten Deutschland“ noch unter der Decke schlummerte. Sarrazin hat vermutlich viel dazu beigetragen, die AfD im bürgerlichen Lager hoffähig zu machen.

Als Merkel 2015 ihre Willkommenskultur für Flüchtlinge aus dem syrischen Bürgerkrieg proklamierte, traf sie auf anderen Widerstand als die jugoslawischen Bürgerkriegsflüchtlinge Anfang der 90er Jahre. Das rechte Lager war und ist weit besser organisiert als 1993, und es reicht viel weiter bis in die Mitte der bürgerlichen Gesellschaft. AfD und Pegida gelang es, die Flüchtlingsfrage zu instrumentalisieren und letztlich damit den Einzug in den Bundestag zu schaffen.

Es geht nicht darum, Gräben zu überwinden

Daran ist nicht Merkels Flüchtlingspolitik schuld, sondern der epochale Konflikt zwischen offener Gesellschaft und nationalistischer Abschottung – ein Konflikt, der 1993 so noch gar nicht existierte. Dabei ist Verständnis für Leute, die die AfD wählen, völlig fehl am Platz. Es geht um zwei völlig verschiedene Vorstellungen davon, wie wir leben wollen – und nicht darum, Gräben zu überwinden.

Nun kommt es darauf an, die offene Gesellschaft gegen die Rechte zu verteidigen. Hasnain Kazim, der Spiegel-Kollege, der vor zwei Jahren von Erdoğan wegen seiner kritischen Berichterstattung aus der Türkei vertrieben wurde, hat sich in seinem jüngst erschienenen Buch „Post von Karlheinz“ mit den Hassmails, die er regelmäßig von Vertretern des national gesinnten Teils Deutschlands bekommt, auseinandergesetzt. In einem Interview wurde er gefragt, ob er nicht mit seinem Buch dazu beitrage, Gräben zu vertiefen, anstatt sie zuzuschütten. Er antwortet darauf: Zu Leuten, die ihm ganz offen damit drohen, ihn „ins Gas zu schicken“, könne er sich den Graben gar nicht tief genug vorstellen.

Früher, so schildert es Kazim, habe man ihm anonym „Verpiss dich Kanake“ geschrieben. „Heute steht ganz stolz der Name, der Doktortitel und die Privatadresse unter den Hassmails.“

Mit politischen Morden an Flüchtlingen und/oder an Repräsentanten der offenen Gesellschaft muss man heute in Deutschland noch genauso rechnen wie 1993 in Solingen. Schlimmer noch: Die Gefahr ist eher größer geworden.

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