Jenseits der Ertragslogik

Im abgehängten Stadtteil Blumenthal betreibt das Bremer Theater Kulturverschwendung: Ein Projekt das durch echte Kunst den Stadtteil so belebt, dass er es gar nicht merkt

Will die „edlen Wilden Blumenthals“ kultivieren: der künstlerische Leiter Mirko Borscht in Mönchsrobe am Laptop Foto: Jens Fischer

Von Jens Fischer

Blumenthal – für Nicht-Eingeborene ein geradezu dystopisch anmutender Ort in Bremens Norden. Von der Botanik zurückeroberte Parkplätze gibt es auf der ehemaligen Flaniermeile Mühlenstraße. Einzelhandel aller Art hat aufgegeben. Post, Drogerie- und Lebensmitteldiscounter: sorry closed. Sogar eine Spielhalle: dicht. Siechender Stillstand. Ein Filmset zum Thema sterbende Provinz.

Populistische Erklärung: Pi mal Daumen wird von einem Ausländeranteil und einer Arbeitslosenquote von jeweils etwa 20 Prozent berichtet. Hintergrund: Auf der Vulkanwerft waren einst 6.500, bei der Wollkämmerei 5.000 Menschen angestellt – nach der Abwicklung beider Unternehmen zogen diejenigen Blumenthaler weg, die Arbeit brauchten.

„Die Rentner und die wenig Qualifizierten blieben“, sagt Ortsamtsleiter Peter Nowack. 7.000 Geflüchtete zogen hinzu, Stand 2016. Dann kam das 1. Auswärtsspiel des Theater Bremen. Mit 53.000 Euro und der Tatkraft von 200 Mitarbeitern aller Bühnenabteilungen wurden sechs Tage der offenen Tür inszeniert.

City-Bremer strömten herbei, um das vernachlässigte Quartier kennenzulernen. Neugier traf Elends- und Kulturtourismus. „Dass hier mal wieder was passiert und so das Selbstbewusstsein der Blumenthaler steigt“, hoffte Nowack. Und freut sich. Weil es funktionierte. Jetzt ist die stimmungsaufhellende Institution erneut geladen.

Bei der Erstbegegnung hatte der Schauspieler Alexander Swoboda mit seinem Nationalstraße-Monolog nach dem Roman von Jaroslav Rudiš die Besucher einer urigen Kneipe aufgemischt. Würde er heute gern wiederholen. Hat den Text dabei. „Aber jetzt ist kein Publikum da.“ Also dort, wo sich die Kollegen eingerichtet haben. Mit einem sechswöchigen Happening.

24 Stunden täglich geöffnet ist die dafür erbaute „Station Neu-Blumenthal“ – eine forsch schräg aus dem Marktplatzboden hervorbrechende oder schamvoll in ihm versinkende Holzkirchen-Installation. Flankiert von einem Billigheimer-Laden und der Schuldnerberatung sowie einem versifften Geschäftshaus und bulgarischen Tüdelkiosk.

19 Uhr. Kaum etwas los. Einige Kinder toben herum. Ein Fünfjähriger fragt vorbeiflanierende Männer, ob sie seinen Penis anfassen wollen. Zwei Ur-Blumenthaler schweigen geradeaus und trinken Bier, drei junge Anwohner mit verschiedenen Migrationshintergründen reden miteinander und trinken Bier.

Ins Gespräch kommen. Deswegen wurden Tische und Bänke aus dem Theaterfundus herbeigeschafft und ein Holzkasten als Urban-Gardening-Geste gestaltet. „Die haben es hier ja in zwei Jahren nicht geschafft, ein paar Sitzmöbel aufzustellen“, wundert sich der künstlerische Leiter Mirko Borscht. Dabei war es einhelliger Politiker- und Bürgerwunsch nach dem 1. Auswärtsspiel, den Marktplatz als Treffpunkt herzurichten.

Blumenthal im Koma? Nicht ganz. Das vor sich hin rottende Kaufhaus Nordholz wird gerade zur Kita umgebaut. „Denn wir sind ein weiter wachsender Stadtteil“, betont Nowack. Drei Grundschulen und eine Berufsschule sollen bis 2021 entstehen, Neubauprojekte mit über 400 Wohnungen seien genehmigt. Schon jetzt aufgemacht hat ein Repair-Café, eine Zeitarbeitsfirma betreibt neuerdings ein Büro, in einem Shop werden Wasserpfeifen und Tschadors angeboten.

Auch in Blumenthal bestimmt die Nachfrage das Angebot. Besonders erfreulich: Das einstige Theater-Festivalcafé gibt es noch. Dort kümmert sich das Quartiersmanagement um „Miteinander statt Nebeneinander, Begegnung statt Konflikt, Kultur statt Langeweile“. Vor der Tür versuchen die Theatermacher das Gleiche.

Borscht schlägt eine wechselseitige Revitalisierung vor, denn es sei an der Zeit, „dass man soziale Brennpunkte nicht über Kultur belehrt und hübsch unterhält, sondern dass die Kultur eine belebende Wirkung ausübt und der Brennpunktzusammenhang dem Kulturbetrieb etwas zurückgibt, was er so dringend brauchen kann“. Klingt toll. Schauen wir mal, wie das funktioniert. Also einfach mal vorbei.

Texttafeln behaupten eine Metaebene der Aktion. Kolonialismus sei das Thema. Schließlich residieren die Theatermacher an der Kapitän Dallmann gewidmeten Straße. Der auf dem Blumenthaler Friedhof beerdigte Seebär hisste 1884 mit Kaufmann Otto Finsch auf Neuguinea die reichsdeutsche Flagge und gründete die Handelsstation Blumenthal – als Ausgangspunkt für die koloniale Ausbeutung der Insel und sogenannte „Kultivierung“ ihrer Bevölkerung.

In ironischer Umkehrung versucht Borscht das nun mit den „edlen Wilden Blumenthals“. In der Mönchsrobe des Missionars mutet er ihnen seine provokativen Kunstvorstellungen zu. Will damit die Eingeborenen-Kunst umhäkelter Bäume und Laternen stören. Sucht Streit. Versucht es mit Performances, die kaum jemand verfolgt. Eingedenk des überwiegenden Desinteresses an Noise-Musik spielt er ebensolche sehr laut – und sorgt so „für Verstörung bei Anliegern und Passanten“, wie er sagt. Einige zufällig auf der Straße angesprochene Blumenthaler meinen, freundliche Skepsis sei inzwischen in Ratlosigkeit umgeschlagen.

19 Uhr. Kaum etwas los. Einige Kinder toben herum. Ein Fünfjähriger fragt vorbeiflanierende Männer, ob sie seinen Penis anfassen wollen

Borscht wohnt mit seinem Kollegen Farhad Taghizade in der Station. Es gibt eine Schlafkoje und auch eine kuddelmuddelige Küchenecke voller Wasser- und Bier-Flaschen, Kaffeekochutensilien sowie Essensresten. Tagsüber gastieren Theaterkollegen. Egal was sie anbieten, vor allem Kinder nutzen das Areal als Spielplatz und die Station als Klettergerüst. Ein nicht geringer Teil der Kulturarbeit ist der Kinderbetreuung gewidmet.

Macht aber nichts, es soll ja kaum festes Programm angeboten, sondern interagiert werden. Ein gutes Beispiel dafür sei ein Filmabend, findet Borscht. „In Gesprächen über Kolonialismus habe ich ein Interesse an Kannibalismus wahrgenommen, also dem reißerischsten Aspekt der kolonialen Sicht auf das Fremde.“ Man habe daher Menschenfresserszenen aus Filmen und Videos für einen Kinoabend zusammenschneiden lassen. „Da kamen dann auch Jugendliche zum Zugucken.“

So gehen die Tage dahin. Borscht & Co. machen ihr Ding, laden Freunde dazu und wenn mal jemand darüber redet, ist das Teil der Show. Alltag, Theaterprobe und -aufführung sind dabei identisch.

An dem von mir besuchten Abend gibt es ein Kontrastprogramm: Alexander Kühne liest aus seinem Debütroman „Düsterbusch City Lights“. Der Autor beschreibt, wie er in den letzten DDR-Jahren Punk- und New-Wave-Bands aus Westberlin in den FDJ-Jugendclub „Extrem“ nach Lugau in der Lausitz zu Konzerten geschmuggelt hat.

Das gute halbe Dutzend Zuhörer, vor allem Theatermitarbeiter und Journalisten, ist in Ohrensessel gefläzt, räkelt sich auf dem Fußboden, ruckelt auf Bierbänken herum. Kinder perkussionieren auf den Stationswänden. Jugendliche kommen herein und stören die Lesung. „Haltet doch mal die Schnauze“, sagt Borscht, ganz in der Rolle des aggressiven Kolonialherren. Die Halbstarken wollen von ihrem respektlosen Verhalten ablenken und behaupten Rassismus: „Wir haben keine Schnauze, sondern einen Mund.“

Sind so kleine Gespräche, die den Stationsalltag kennzeichnen. Borscht: „Wir betreiben Kulturverschwendung.“ Ob das Theater Bremen etwas davon hat: „Ist egal.“ Und profitiert Blumenthal? „Nein.“ Bis 16. Juni ist jeder eingeladen, auch mal vorbeizuschauen. Auf T-Shirts der Mitarbeiter steht: „you can’t win.“