Einfühlen in Verstrickungen

Das Festival Theaterformen nimmt in Braunschweig Kontinente übergreifende postkoloniale Lebensgeschichten in den Blick. Zum Auftakt gabes eine virtuelle Reise in den australischen Outback, ein biederes Melodram – und viel Anlass für Schweiß

Anlaufen gegen die Geschichte: In seiner Performance “Because I Always Feel Like Running“ beschäftigt sich Ogutu Muraya mit Langstreckenläufern als politisch aufgeladenem Körper zwischen antikolonialen Kämpfen und Leistungssport Foto: Ogutu Muraya

Von Jens Fischer

Auf den letzten Drücker noch dem Theater entgegengehetzt oder gemütlich die Stufen zum Kulturtempel emporgestiegen: Schweißgebadet sind die Besucher auf jeden Fall an diesen hochsommerlichen Junitagen. So werden sie beim Theaterformen-Festival in Braunschweig in einem Gang des Foyers platziert. Und mit VR-Brille sowie Kopfhörer von der umgebenden Realität erst mal abgeschottet. Schon eröffnet sich in 3 D ein 360-Grad-Szenario des australischen Outbacks.

Also schwitzt und stinkt der Betrachter gleich weiter beim optischen Taumeln durch die rotbraunen Weiten der Pilbare-Wüste – ist die Kamera doch mal auf einem Truck, mal auf einer Drohne befestigt. Schließlich kommt sie zum Stehen und eine indigene Familie ins Bild, auch ihre von Hunden durchwuselte Siedlung. Die Sonne glüht und mit Sätzen vom achtsamen, Ressourcen schonenden Leben im Einklang mit der Natur zärtelt sich eine Offstimme ins Ohr.

Plötzlich steigt ein Atompilz aus dem Boden und ein Ascheregen geht nieder, verkohlte Kängurus fliegen einem um die Ohren. Die Ureinwohner vom Stamm der Martu beschreiben die Katastrophe mit Vokabeln ihrer Mythologie, deuten sie als göttliche Offenbarung und verspeisen die ihnen wie gebratene Tauben in den Mund fliegenden Beuteltiere – was der Gesundheit abträglich ist. Im Vergleich zu heutigen Computerspielen wirkt die Animation der Szene archaisch.

Moralisches Schwitzen

Der Vorgang ermöglicht neben dem physischen aber auch ein moralisches Drauflosschwitzen. Denn in den 1950er-Jahren, so ist zu erfahren, führten die Engländer einen Atomtest in der Martu-Heimat durch – ohne Rücksicht auf die dort lebenden Menschen und das ökologisch fragile System – verheerend. Wohl nur zu erklären aus der kolonialen, machtwahnsinnigen Gedankenwelt der Briten: In „ihrem“ Australien dürfen sie wüten und ausbeuten, wie sie wollen.

Mahnend malt ein Zeitzeuge den Atompilz in pointilistischer Aborigines-Art. Über diese „Collisions“ zweier Zivilisationen meditiert die Erzählerstimme des 18-minütigen Films der australischen Videokünstlerin Lynette Wallworth. Passend dazu fragen die Theaterformen-Macher auf ihren Jutebeuteln: „What will freedom look like?“

Nach einem selbstbeweihräuchernden Podiumsgespräch beim Eröffnungsempfang tritt Leiterin Martine Dennewald doch noch energisch ans Mikro, wird persönlich und konkretisiert das Programm-Konzept. Ihr Leben als weiße Deutsche ohne Fluchterfahrung und unser Wohlstand seien eine historische Ausnahme: „Heute sind nicht wir, heute ist Migration die Norm – auch als Folge kolonialer Herrschaftsverhältnisse. Um die zu verstehen, brauchen wir ein Gefühl dafür.“

Erste grummelige Regungen erzeugte ja schon mal die immersiv virtuelle Reise in die radioaktive Landschaft, die das gesamte Festival über im Staatstheater Braunschweig zu erleben ist, vor dem vier Theaterformen-Fahnen flattern.

Mehr braucht es nicht, um das Ereignis anzukündigen. Denn in der Löwenstadt wurde vor 28 Jahren das Präsentationsformat für Ästhetiken des internationalen Gegenwartstheaters erfunden. Inzwischen ist es eine lieb gewonnene Erweiterung des Stadttheateralltags. Und idealer Ort für Menschen, die den Zustand schätzen, ständig etwas zu verpassen: Dennewald hat weltweit 300 Aufführungen gesichtet und nun 200 Künstler aus zwölf, oft afrikanischen Ländern geladen, 160 Programmpunkte an 11 Tagen zu gestalten. Da lohnt genaues Programmheftstudium. Gerade auch, weil die Gastspiele stets nur an zwei aufeinander folgenden Tagen gezeigt werden – also meist schon wieder weg sind, bevor einen die Mundpropaganda erreicht.

Zur kostenlosen Einstimmung kann jeder erst mal ins Kassenfoyer bummeln und sich in Selina Thompsons Installation „Race cards“ einschreiben. Während ihrer Recherchen über Alltagsrassismus und Identitäten schwarzer Briten begann sie, dabei auftauchende Fragen zu sammeln. 1.000 sollen es inzwischen sein.

Kritik wird Zensur

Auf Karteikarten wurden sie notiert und nun ausgehängt. Zu lesen ist beispielsweise: Weshalb sind Schwarze so laut? Ist kulturelle Aneignung einfach schlechte Kunst? Wie ist es, weiß zu sein? Ab wann verliert deine Neugierde ihre Unschuld? Was inspirierte Shakespeare, „Othello“ zu schreiben? Ab wann wird Kritik zur Zensur? Der Betrachter soll seine Lieblingsfrage auswählen und beantworten. Hinter der Karte „Wo kommen deine Großeltern her?“ steht nun: „Meine Großeltern haben österreichische und ungarische Wurzeln.“ Ob so mal ein Dialog entsteht?

Wie das mit dem Einfühlen in postkoloniale Verstrickungen und Kontinente übergreifende Lebensgeschichten funktionieren kann, vermittelt „Saigon“ von Caroline Guiela Nguyen. Die Tochter eines Franzosen und einer Vietnamesin erzählt vom heimatlosen Pendeln zwischen zwei Kulturen. Fokussiert als Folge der französischen Besatzung Vietnams die gebrochene Eltern- und entwurzelte Kindergeneration.

Auf der Bühne steht ein Asia-Lokal als Breitwandpanorama. Auf zwei Zeitschienen wird es bespielt: 1956 verortet in Saigon – nach dem verlorenen Ersten Indochinakrieg organisieren die Kolonisatoren und Kollaborateure ihren Abschied. 1996 verortet in Paris – weil die Clinton-Regierung das Vietnam-Embargo aufhob, bereiten sich Exilanten auf ihre Rückkehr vor.

Zeitgemäß wird den Zuschauern emotionales Andocken ermöglicht, die Geschichte nämlich im Duktus des psychologischen TV-Vorabend-Serien-Realismus dargeboten. Die Figuren kochen, essen, trinken, singen, tanzen, streiten, lieben. Ganz viel wird geheult, unendlich viel gequasselt. Schwerblütige Musik quält sich dazu aus den Lautsprechern. Einige Inhalte aber dringen durch: Einsamkeit in der Diaspora, Schmerz der Nostalgie, Wut auf Frankreich, Ambivalenz der Assimilation, Traumata getrennter Familien und Konflikte zwischen Erinnern und Vergessen der eigenen Sprache.

Ein spannungsgeladener Stoff, dessen biedere Umsetzung grundlegend dem Festivalanspruch widerspricht, neue Sehweisen mit innovativen Theaterformen zu ermöglichen. Aber die Produktion ist ja auch schon wieder abgereist. Aber anderthalb Wochen lang gibts ja noch eine Menge an Schauspielen, Tanz, Performances, Konzerten, Workshops, Diskussionen, Warm-up- und Cool-down-Gesprächen zu erleben.

bis So, 17. 6., Staatstheater und Kunstverein Braunschweig