Personen erfinden

Ausstellungen an Orten, die es bald nicht mehr gibt: die Reihe On Location

Von Sophie Jung

Berlin sei „dazu verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein“ proklamierte 1910 Karl Scheffler in einer Streitschrift. Das gilt immer noch, füllen doch plötzlich spiegelverglaste Bürobauten und steife Arkadenfassaden Flächen, die tags zuvor brach lagen. Den Sommer über verlagert das KW seine Ausstellungen an Berliner Orte, die es womöglich bald nicht mehr gibt. In der Kreuzberger Hinterhofgarage des ehemaligen KFZ-Verleihs Robben&Wientjes etwa, das einem Gewerbebau weichen wird, macht die US-Amerikanerin Lynn Hershman Leeson den Auftakt der Reihe On Location.

Seit den 70er Jahren bes chäftigt sich die feministische Performance- und Videokünstlerin mit der Konstruktion von Identitäten. Sie zersetzt ihre eigene Biografie oder erfindet andere. Schon der Titel der Ausstellung ist mit First Person Plural schizophren. In ihren zehn gezeigten Arbeiten rückt die Künstlerin Gewissheiten über Identitäten in Zweifel, und dies an einem Ort, der selbst der Veränderung unterliegt.

Das räumliche Arrangement der Arbeiten ist minimalistisch: Vier freistehende, von Metallständen gehaltene Leinwände stehen im ehemaligen Werkstatt­raum akkurat hintereinander. Betritt man diesen Hauptsaal im richtigen Moment, taucht gleich vier Mal das Konterfei der Künstlerin auf den Leinwänden auf. Vier Mal dieses seltsam zur Seite gerichtete Gesicht, der Blick von dichten Haarwellen bedeckt, das mit unnahbarem Ausdruck von sich erzählt.

Electronic Diariesheißt die Serie von 1985–1990. Lynn Hershman Leeson inszeniert sich darin mit Künstlichkeit vor der Kamera, um gleichzeitig über Intimstes zu berichten. Über ihre Krebserkrankung, über Missbrauch, über einen übergriffigen Ehemann, der sie abrupt verlässt: „Während er fort war, gab ich meiner Fantasie und meinem Appetit freien Lauf“, beichtet sie. „Sonderbar war, dass ich aufgrund meiner veränderten Gestalt und all meiner flüchtigen Affären dann dem kalorienreichen Fremden treu und monogam wurde […]Hunger und Entbehrung sind einander in Wirklichkeit sehr ähnlich.“

Die Videotagebücher zeigen die Bekenntnisse einer Frau zwischen Klischee und Nachdenklichkeit. Doch zugleich bezweifelt die Künstlerin den Wahrheitsgehalt ihrer eigenen Aufzeichnungen, hebt sie mit eingespielten Nachrichtensequenzen auf eine gesellschaftliche Ebene oder verzerrt sie mit visuellen Effekten zur Unglaubwürdigkeit. Ist das Ich, das hier spricht, wirklich Ich oder ein von außen konstruiertes?

Seit den Siebzigerjahren inszeniert die Künstlerin in ausgedehnten Performanceprojekten das Leben erfundener Personen und hinterlässt Spuren von ihnen in der realen Welt. Lorna etwa ist eine dieser Figuren, deren klaustrophobisches Einzimmerapartment installiert ist. Die wohl bekannteste von Lynn Hershman Leesons Figuren ist ihr Alter Ego Roberta Breitmore. Fürs KW spiegelt sie ihre erste Installation aus der Breitmore-Episode, The Dante Hotel von 1972–73, in die Gegenwart. Man muss nach Berlin-Mitte in das Hotel Novalis fahren, um sich wie ein Voyeur in dem engen Raum der rätselhaften Roberta Lester umzuschauen. Ein offener Laptop, die hochgefahrene Badezimmerbelüftung und in die Ecke geworfene Pumps vermitteln den Eindruck von schnellem Aufbruch. Roberta Lester aber ist entwichen.

Lynn Hershman Leeson: First Person Plural, 19.5.–15.7., The Shelf; und The Novalis Hotel, 19. 5.–17. 6.