Die Feinschmeckeruniversität

Die fachgerechte Degustation von Weinen und die Qualität von Parmaschinken studieren? Das ist Alltag an der ersten Universität für gastronomische Wissenschaften in Italien. Denn auch kulinarischer Genuss und Esskultur wollen gelernt sein

VON OLIVER VOSS

„Hinter jedem Lebensmittel steht eine Geschichte“, erklärt Pier Luigi Roncaglia, „diese kulturellen Wurzeln und lokalen Besonderheiten muss man kennen lernen.“ Roncaglia liebt es, über Essen zu sprechen und wenn es wie heute um Wurst geht, ist er in seinem Element. Der äußerlich an den Schauspieler Steve Martin erinnernde Mann ist Dozent an der italienischen Universität für gastronomische Wissenschaften. Auf dem Plan steht das Seminar Wurstverkostung, doch bevor Roncaglia die vor ihm liegenden Schinken auspackt, hält er eine Einführung in die europäische Wurstgeschichte.

Die weltweit erste Gastronomieuniversität hat letztes Jahr den Betrieb aufgenommen. Höchste Zeit, meinte der maßgeblich an der Gründung beteiligte Carlo Petrini: „Essen ist eines der wenigen unverzichtbaren Dinge in unserem Leben, und es ist verwunderlich, dass es dafür noch keine autonome und interdisziplinäre Wissenschaft gibt.“ Petrini ist Präsident von „Slow Food“, einer Vereinigung, die sich der Förderung des guten Geschmacks widmet. Gemeinsam mit zwei italienischen Regionen gründete Slow Food die Privatuniversität, als „kulturelle Anlaufstelle für alles, was Gastronomie betrifft“. Bestehende Studiengänge in diesem Bereich sind neben der Ausbildung zum Koch vor allem naturwissenschaftlich-technisch orientiert, wie Ernährungswissenschaften oder Lebensmitteltechnik. Die Gastro-Uni hat dagegen einen ganzheitlichen Ansatz. Neben chemischen und biologischen Grundlagen geht es um Geschichte, Marketing, Management oder künstlerische Aspekte, wie Lebensmitteldesign. Die angehenden Gastronomen sollen Speisen und Getränke studieren und sie als kulturelle Werte schätzen lernen und bekannt machen.

Studieren heißt dabei vor allem probieren. Dazu gibt es ein hochmodernes Labor für sensorische Tests. An einfachen Produkten wie drei verschiedenen Tomatenpürees lernen die Studenten, ihre Sinne zu schärfen, denn auch das Verkosten will gelernt sein. „Wer das erste Mal Wein degustiert, sieht, dass man das Glas schwenkt, und macht es nach“, erzählt der Schweizer Student Adrian Bindella. „Dann fragt man sich, warum, und lernt, dass dabei eine Reaktion mit dem Sauerstoff ausgelöst wird.“ Inzwischen sind die Studenten geübt, erst gestern gab es wieder eine Weinverkostung, und im Sekretariat neben dem Kopierer stehen noch zwei Kisten mit leeren Flaschen. Heute Vormittag folgte die Theorie des Weinanbaus, andere Kurse sind Lebensmittelrecht, Mikrobiologie oder Geschichte der Kochkunst. „Einige finden es lustig, viel zu essen und zu trinken“, sagt Adrian Bindella, „doch man muss es einordnen können und braucht ein klares Ziel, was man danach will.“ So wie sein Landsmann Jerome Leupin, der plant, italienische Spezialitäten nach Asien zu exportieren: „Es gibt eine große Nachfrage in Japan, da grassiert eine richtige Italianitis.“ Andere Berufsmöglichkeiten sind Restaurantkritik oder gastronomischer Tourismus.

Der Hauptsitz der Uni liegt in Pollenzo in der Region Piemont. Dort gibt es einen dreijährigen Studiengang, dem zwei Jahre Spezialisierung in gastronomischer Kommunikationswissenschaft oder Betriebsführung im Lebensmittelbereich folgen. Hier in Colorno, einem kleinen Örtchen, zwanzig Minuten nördlich von Parma, findet der Masterstudiengang für 25 Personen statt. Unterrichtsgebäude ist ein alter Königspalast, der einst die Lieblingsresidenz von Napoleons Frau, Marie Louise von Österreich, war. Auch die bekannte Kochschule Alma hat hier ihren Sitz und fungiert zugleich als Mensa für die Gastronomiestudenten.

Solche Exklusivität hat ihren Preis: 21.000 Euro kostet das einjährige Masterstudium; darin sind aber Unterkunft, Verpflegung und Reisekosten enthalten. Ein Viertel der Studienzeit besteht aus Praktika und Exkursionen, um besondere kulinarische Spezialitäten und ihre Herstellung vor Ort kennen zu lernen. Muscheln sammeln in Galicien oder ein Besuch der romagnolischen Apenninen, um Raviggiolo zu kosten, denn das maximal vier Tage haltbare Milchprodukt ist nur dort im Winter in einigen Tälern zu finden. Besonders solche regionalen Spezialitäten, die wenig bekannt, aber sehr teuer sind, drohen vom Markt zu verschwinden. Ein Ziel der Universität ist es, Wissen über diese Nischenprodukte zu vermitteln und deren Produzenten zu fördern.

Pier Luigi Roncaglia hat begonnen, die Schinken aufzuschneiden. „Das ist eines der am wenigsten behandelten Lebensmittel“, erklärt er, „im Prinzip kommt nur Salz dazu, den Rest machen die Zeit und die Luft der Region.“ So ist das neblig-feuchte Klima der Poebene bei Zibello das Geheimnis des Culatello, der aus dem Kernstück des Schenkels hergestellt wird. Neben diesem „König italienischer Schinken“ gibt es den Klassiker aus Parma und ein Exemplar aus Modena. Roncaglia erklärt, wie „perfektes Fett“ auszusehen hat (zartrosa) und zeigt die Fehler der einzelnen Premiumschinken. Der eine hat einen fast zu hohen Fettanteil, was an den Genen des Schweins liegt, der andere weist eine dunkle Stelle auf, da wurde ungleichmäßig gesalzen. Roncaglia fragt, wer süßen und wer salzigen Schinken bevorzugt. Die Mehrheit spricht sich für salzig aus. Eine Überraschung, denn eigentlich gilt: Je höher die Qualität, desto weniger Konservierungsstoffe – und Salz ist nichts anderes. Um das zu demonstrieren, hat der Dozent auch abgepackte Schinken aus dem Supermarkt mitgebracht. Die sind zusätzlich mit Nitraten behandelt, um die Haltbarkeit zu verlängern, und tatsächlich schmeckt man das Salz sofort. Bei den anderen hat es die ungeübte Zunge schon schwerer. Erst schmeckt der Parmaschinken süßer, dann doch der aus Modena. Aber auch die Diplomgourmets kommen dabei durcheinander und fragen immer mal: „Ist das jetzt Parma oder Modena?“