Von Surf-Magazinen kicken lassen

Lettrismus, Hermetik, höherer Nonsense: Das 19. Berliner Poesiefestival war verschlankt – was der Feier der Sprachspielkunst guttat. Prominente Gäste waren Ai Wei Wei, Eugen Gomringer und Robert Forster

Das war romantisch, eine Beschwörung alter Magie

Von René Hamann

Es war einiges anders diesmal beim Berliner Poesiefestival. Zwar stöhnte die Akademie der Künste, Zweigstelle Hanseatenweg in Berlin-Tiergarten, wieder unter der ungewöhnlichen Frühsommerhitze, aber das ging dem Rest der Republik nicht anders. Das Haus für Poesie, ehemals Literaturwerkstatt, Veranstalter des Festivals, bot wenig Schatten, dafür umso mehr innere Wärme in den halbdunklen Räumen der Akademie – und etwas Trost in karger Poesie. Es wurde alles frugaler gereicht als sonst; das Festival hatte abgespeckt. Es dauerte nur eine gute Woche, das Programm war im Vergleich zu den Vorjahren deutlich verschlankt worden, und das war auch gut so.

Die Höhepunkte dieser Woche sind schnell benannt: Es waren die (wenigen) großen Namen. Ai Wei Wei durfte Pate für einen amüsanten Abend mit chinesischer Lyrik sein; der rüstige Eugen Gomringer noch etwas von seinem späten Ruhm abschöpfen, zu dem er bekanntlich eher unfreiwillig gekommen ist; und Robert Forster, Sänger und Songschreiber, ehemals bei den Go-Betweens, bildete als vergleichsweise kleiner Vertreter des vorletzten Literaturnobelpreisträgers Bob Dylan (man muss sich an diese Formulierung immer noch gewöhnen) die Klammer, und er tat das auf eine sehr charmante, gewinnende Art und Weise.

Sparen wir uns also den Rückblick auf „Weltklang – Nacht der Poesie“, die wie üblich das Festival einleitete, und bei dem Forster wie auch die japanisch-berlinische Autorin Yoko Tawada und andere auftraten. Den Schluss markierte Forster nahezu allein – in einem Werkgespräch mit der Musikjournalistin Christine Heise. Dabei stellte der Elder Statesman des PostPunk schnell klar, dass er hier nur so halb hingehörte. Ein Poet sei er nämlich nicht, schließlich schreibe er keine Gedichte. Er sei, wie Dylan, vielmehr ein lyricist, ein Songtexter. Die Songtexterei sei nicht mit der ­Poesie gleichzusetzen, übrigens auch nicht mit dem Journalismus. Aber sie sei als Teil der Literatur aufzufassen – der Nobelpreis für Dylan habe das fundamentiert.

Der Einblick, den Forster in sein Schaffen zuließ, war autobiografisch geprägt. „We used to wet our fingers on surfing magazines“, eine Zeile aus einem Stück der Go-Betweens aus der Spätphase, wurde zu einem Leitfaden nicht nur dieses Abends, sondern der gesamten Woche. Forster erzählte von den Tagen, als die Surf-Kultur noch eine Gegenkultur war, in den sechziger und siebziger Jahren. Das war etwas romantisch. Eine Beschwörung alter Magie. Und es ließ einen Ausblick aus der Zukunft auf die Vergangenheit zu: damals, als Surfer noch Hippies waren. Damals, als es noch Literaturzeitschriften gab. Damals, als Poesie noch gedruckt wurde.

Die Konkrete Poesie ist noch etwas älter; über ein halbes Jahrhundert alt inzwischen. Dass sie es noch einmal ins Programm des Poesiefestivals schaffte, hat natürlich viel mit dem Urvater des Genres zu tun, eben Eugen Gomringer, Vater von Nora, der vor Kurzem mit seinem Gedicht „avenidas“ für allerlei Aufmerksamkeit sorgte. „ping pong“ oder „schweigen“, zwei andere Urtexte der Konkreten Poesie aus seiner Schreibmaschine, hätten vielleicht besser auf die ominöse Hauswand an der Alice-Salomon-Hochschule in Berlin-Hellersdorf gepasst.

Arbeiterinnenlyrikbrillanz

In ebenjener Tradition der Wortkunst oder, wie sie selbst sagen: Sprachkunst steht die Künstlervereinigung Maerz aus dem österreichischen Linz, die am Donnerstag eine Veranstaltung unter dem Motto „Sinngewinn durch Unfug“ machte. Eine mittlerweile etwas abseits stehende ehemalige Avantgarde, die hier ihre Vielfalt vorführen durfte, was für einen mehrheitlich vergnüglichen Nachmittag sorgte. Lettrismus, Hermetik, visual ­poetry, höherer Nonsens: Was insbesondere der Prosa-Dekonstruktivist Florian Neuner und die elegante Wortspielerin Zsuzsanna Gahse boten, war mehr als nur amüsant.

Die Kämpfe zwischen den jeweiligen Richtungen sind alle schon geschlagen, jetzt ist Zeit, mit beginnender Altersweisheit milde auf das, was war, zu schauen. „We used to get our kicks reading surfing magazines“, wie der besagte, ebenfalls gut ergraute Robert Forster sang. Die Konkrete Poesie, der Lettrismus, die gute alte Hermetik, so viel und noch viel mehr kann Poesie sein; und zwar nicht ausschließlich, sondern gleichzeitig. Die brillante und zeitgemäße Arbeiterinnendichtung der chinesischen Dichterin Zheng Xiaoqiong (die sich keinesfalls „Tsching Tschang Tschung“ spricht, wie Festivalleiter Thomas Wohlfahrt versuchte) weist eher in die Zukunft als die subjektiv verschraubte Lyrik der Elke Erb, die in diesem Jahr die „Berliner Rede zur Poesie“ halten durfte: Berechtigung haben beide.

Zu hoffen bleibt, dass sich das Festival seiner Stärken besinnt und auch im nächsten Jahr, wenn ein runder Geburtstag ansteht – diesmal war es das 19. Mal – weiter Mut zur Verschlankung zeigt. Einen Tipp für den musikalischen Rahmen gäbe es: Auch Courtney Barnett, Indierock-Hoffnung und patente Songtexterin aus Australien, findet die Go-Betweens gut und hat ebenso viel von Bob Dylan. Ihr Lieblingslied gerade: „Surfing Magazines“.