Stadt der Identitätskrisen: Wien am Meer

In Triest war nie ganz klar, zu welcher Nation man gerade gehörte. Die Stadt des Kaffees und der Literatur ist eine Kreuzung, auch zwischen Ost und West.

Menschen auf einem Anleger am Meer

Die Molo Audace entlang hinaus in das dunkle Orange Foto: Martin Reichert

Nein, auf gar keinen Fall möchte man vegane Couscousbällchen mit Cranberrysauce aus recycelbaren Bambusschälchen zu Abend essen, wenn man in Triest zu Besuch ist. Auch wenn M. das den Besuchern vorschlägt, in der Annahme, dass sie das Zeitgenössische bevorzugen. Aber gerade deshalb fährt man ja nicht nach Triest, das nur 200.000 Einwohner hat, aber einst der Hafen der Habsburger war. Das Tor zur Welt eines riesigen Reichs, dem 1918 der Stecker gezogen wurde, woraufhin die Stadt in einen angenehmen Dämmerschlaf fiel. „Super interesting“, sagt M. in jedem zweiten Satz und meint das Gegenteil. M. ist ein ständig rauchender, Kaffee und Aperol Spritz trinkender Triestino, klein und drahtig und mit einer Glatze, die seine braunen Augen, die er gerne aufreißt, um Überraschung oder Entsetzen anzuzeigen, noch viel größer wirken lässt. M. ist Kurator, nebenbei unterhält er eine Galerie für zeitgenössische Kunst.

Doch erneut: Man kommt nicht hierher des Zeitgenössischen wegen. Sondern weil man Sehnsucht hat nach alten Kaffeehäusern und mitteleuropäischer Eleganz und Lebensart. Und essen möchte man lieber in Rotwein gar gezogene Fuži-Nudeln aus Istrien, Jotasuppe mit Kraut und Bohnen oder gleich „Kaiserfleisch“ und Wiener Würste mit Kren und Senf, deftige Speisen, die traditionell in den Triester „Buffets“ serviert werden und früher die Matrosen und Schauerleute sättigten. Oder dolce, Süßigkeiten, wie „Torta Sacher“ oder mit crema gefüllte Brioche oder Strudel zum nero, wie man hier den Espresso nennt.

Deutsche Italiensehnsüchte

Winkelmann, der Begründer deutscher Italiensehnsüchte, wurde in Triest ermordet, in seinem Hotel, das heute Grand Hotel Duchi d’Aosta heißt. Gewürgt und schließlich erstochen wurde er, nachdem er einem zwielichtigen, aber wohl gut gebauten Herrn seine kostbaren Medaillen gezeigt hatte, die ihm von Maria Theresia für seine wissenschaftlichen Verdienste verliehen worden waren. Maria Theresia ist es zu verdanken, dass die Hafenstadt heute aussieht wie ein kleines „Wien am Meer“, besonders jenseits des eher kleinen, 400 Meter langen Canale Grande. Sie war es, die dafür gesorgt hatte, dass aus der Stadt ein bedeutendes Han­dels­zen­trum werden konnte, mit eigener Börse und der 1831 eröffneten ­Assicurazioni Generali Austro-Italiche, die erst das Habsburgerreich und dann den Rest der Welt versicherte und deren Gebäude zusammen mit dem des Lloyd Triestino noch immer die Piazza dell’Unità d’Italia dominiert, die gute Stube der Stadt und Europas größter direkt am Meer gelegener Platz, dessen Pracht einem den Atem verschlagen kann.

Im öffentlichen Gedenken aber stiehlt „Sisi“ der tatsächlich einst Herrschenden die Show, die moderne Märchenkaiserin Elisabeth von Österreich, die hier an Bord ihrer Jacht ging, wenn sie mal wieder dem Hof in Wien entfliehen wollte; am Bahnhof hat man ihr ein Denkmal errichtet, dort also, wo einst die Südbahn, von Wien kommend, hielt – und spätestens jetzt ahnt man, dass die Bedeutungsschwere des Vergangenen auch erschlagend sein kann für die Menschen, die hier leben.

M. wartet am Teatro Romano di Trieste, dem Amphitheater, das erst von Mussolini wieder zum Vorschein gebracht wurde, indem er ein ganzes mittelalterliches Stadtviertel abreißen ließ. Gleich daneben wurde eine riesige Tiefgarage in den Karst gebaut, und hier hat M., der im Zentrum wohnt, seinen Wagen stehen, in den gequetscht wir nun durch die engen Straßen Triests den Berg hinauffahren.

Mit 40 Jahren ist M. für Triester Verhältnisse jung, die Stadt leidet an Überalterung; die jungen Leute ziehen fort mangels beruflicher Perspektiven – es ist nicht alles so prächtig hier, man ahnt es, wenn man von Slowenien aus über die Autobahn einfährt, vorbei an brutalistischen Wohnsilos. Schön ist dann nur, dass es nach frischem Kaffee aus der Kaffeefabrik riecht, denn auch Illy ist in Triest beheimatet, der Stadt des Kaffees und der Kaffeehäuser, in denen Literaten wie Claudio Magris sitzen – wenn sie noch einen Platz bekommen, denn die Phase, in der Triest als Geheimtipp galt, geht langsam zu Ende. Das Caffè Tommaseo, eröffnet 1830, ist mit seinen Deckengemälden, den Holzverkleidungen und ­Thonet-Stühlen ein Traum – der in jedem Reiseführer steht.

Triestiner Slowenen

In Slowenien gibt es eine ita­lienische Minderheit, so wie es in Triest eine slowenische gibt: Boris Pahor, Holocaustüberlebender und Schriftsteller („Nekropolis“), ist der wohl bekannteste Triestiner Slowene. Triest, das ist auch so etwas wie eine große Kreuzung, wo das alte, römisch geprägte Europa auf die slawische Welt trifft und, in Zeiten des Kalten Krieges, der Westen auf den Osten – ganz Ex-Jugoslawien kennt Triest vor allem als Ort des Einkaufens. Hierher kam man, um Levis-Jeans zu kaufen und andere Produkte, die man so in Jugoslawien nicht bekommen konnte.

Verlässlich war in Triest stets nur der von den Alpen herabwehende, irre starke Bora-Wind

In Triest war nie ganz klar, zu welcher Nation man nun gerade gehörte, verlässlich war stets nur der von den Alpen herabwehende, irre starke Bora-Wind. Eine Stadt, deren permanente Identitätskrise Schriftsteller wie Italo Svevo, Umberto Saba und Scipio Slataper hervorbrachte, die sich ob des Durcheinanders dringlich veranlasst sahen, nach den Wurzeln von Identität zu forschen und so zu Mitbegründern der literarischen Moderne wurden.

Triest und die Literatur, das ist selbst ein Roman: James Joyce, der sich in Triest mehrere Jahre als Englischlehrer verdingte und unter anderem Italo Svevo unterrichtete, der hauptberuflich Inhaber einer Farbenfabrik war. Und reich, während Joyce sein ohnehin schmales Salär gerne in die örtliche Gastronomie trug, Weißwein trank er gerne, istrischen Malvasia.

So, wie M. den Prosecco liebt. Das Dorf Prosecco, Namensgeber des sprudelnden Getränks, liegt gleich oberhalb von Triest, im Karst. Es gibt ihn zum aperitivo bei einer Freundin, deren Eigentumswohnung oberhalb des Hafens mit einem Blick auf den Golf von Triest liegt, der schon wieder ganz unglaublich ist, solange die „fucking Germans“, wie sie sagt, nicht auf die Idee kommen, das neue Allianz-Gebäude unterhalb ihrer Wohnung doch noch höher zu ziehen. Sie sieht mit ihrem scharf geschnittenen, eleganten Gesicht aus, als sei sie einem der Gemälde aus dem Museo Revoltella, unten in der Stadt, entsprungen. Einige ihrer Freunde, wie sie um die 40, sind gekommen. Es gibt nur ein kleines Kind. Die Gastgeberin ist wieder Single, die Beziehung zum Wohnungsnachbarn ist gescheitert, wo eine Verbindungstür war, ist nun ein Wandschrank.

Die Gespräche unter uns Zeitgenossen könnten nun, bis auf den Ausblick, überall in Europa stattfinden. Es geht um gescheiterte Beziehungen, Eigentumswohnungen, die abschmelzende Mittelschicht. Und um die Angst vor dem Niedergang Europas. Die Angst vor den wieder stärker werdenden Faschisten.

Der Canale Grande

Das Auto kommt später zurück in die Tiefgarage, und wir flanieren durch die warme Nacht. „So interesting“, vorbei an der Joyce-Statue am Canale Grande, vorbei am Opernhaus, wir finden ein Restaurant mit istrischen Spezialitäten. Es gibt in Refošk gegarte Fuži und später, viel später, noch Süßes: mit Schokolade ummanteltes Mandeleis. M. raucht. M. lacht. Einen Aperol Spritz könnte man jetzt noch trinken, dessen Orange hierhergehört wie das Blau der Bucht. Wir gehen zur Molo ­Audace, einer Mole, die unmittelbar vor der Piazza dell’Unità d’Italia in die Adria hineinragt. Hier schlendert man immer geradeaus in das Blau hinein, das sich dann rotorange färbt und nachtblau wird, beinah schwarz.

Fast geblendet von den gleißenden Lichtern wird nun, wer sich umdreht zur Piazza. Rechts das Grandhotel wie ein gestrandeter Luxusdampfer. Hier auf der Mole lassen alle gemeinsam den Tag in Triest ausklingen, Einheimische, Touristen. Alte Damen, junge Refugees mit Joint. „I love you“, sagt M. zum Abschied.

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