Andreas Rüttenauer
Russia Today
: Das Herz für eine Nacht in Rostow am Don verloren

Ich habe von dir geträumt. Das Lächeln, das du mir geschenkt hast, es hat mir den Schlaf versüßt. Habe ich gestern mein Herz in Rostow am Don verloren? Es wird dich gewiss nicht interessieren. Wahrscheinlich sitzt du zu Hause bei den Liebsten, musstest viel zu früh aufstehen, um deinen Dienst zu beginnen. Sind deine Kinder schon aus dem Haus oder musstest du ihnen noch ein Pausenbrot schmieren? Ich denke an dich. Bist du glücklich, wie du lebst? Oder hast du dich zu Dienstbeginn gefragt, als du hinter dem Cockpit deiner Straßenbahn Platz genommen hattest, ob es wirklich das ist, was du dir vom Leben erträumt hast, als du jung warst. Wie gerne ich doch alles wüsste über dich.

Jetzt steuerst du wahrscheinlich schon ein paar Stunden den nagelneuen Wagen der Linie 10 quer durch die Stadt. Du weißt, dass das ein Privileg ist. Bis vor Kurzem noch hast auch du diese metallenen Monster durch die Stadt gefahren, diese hässlichen Dinger, die so unförmig und unproportioniert aussehen, als hätte sie ein Kind gemalt, dem man zum ersten Mal einen Stift in die Hand gedrückt hat.

Laut quietschend schieben sich diese Ungetüme über die Schienen. Deine Trambahn aber gleitet, von deiner sicheren Hand geführt, leise am Bahnhof vorbei in die Außenbezirke. Du wärst gewiss gern schneller unterwegs. Doch die Schienen sind so alt, so schlecht verlegt, so krumm und schief, dass du mehr durch die Stadt schleichst, als du fährst. Wer es eilig hat, wird gewiss nicht zu dir in den Wagen steigen.

Ob du zu anderen auch so bist, wie du es zu mir warst? Bist du einfach so oder hast du es für mich getan? Diese Fragen werden dir egal sein. Vielleicht kannst du dich heute schon nicht mehr an unsere Begegnung erinnern. Mir will sie nicht aus dem Kopf gehen. Ich stand an der Haltestelle, als du dein Gefährt zum Stehen brachtest. Ich reagierte nicht. Viel zu spät habe ich gesehen, dass du mir zugewunken hast. Dann diese Frage, dieser weiche Ton in deiner Stimme. Was ich denn hier verloren hätte, wolltest du wissen. Und als ich dir mein Ziel nannte, da sah ich es das erste Mal, das Lächeln, das mir nicht mehr aus dem Kopf will.

Ich solle über die Straße gehen. Wie du das sagtest! Streng und zugewandt zugleich. Du führest in die falsche Richtung. Schade, ich wäre gerne mit dir mitgefahren. Ich ahne, dass ich dich morgen vielleicht schon vergessen habe, dass meine Gedanken an dich nur für den Traum einer Nacht gereicht haben mögen.

Doch noch ist mir dein Gesicht vor Augen, deine weiße Bluse, deine nackten Füße, wie du im Führerhaus saßt. Ich weiß nicht mehr, in welcher Farbe du deine Zehennägel lackiert hattest. Ich weiß nur noch, dass sie mir sehr gefallen hat. Wie wünschte ich mir, du wüsstest, dass ich in Rostow mein Herz für eine Nacht verloren habe!