Vom ersten bis zum letzten Kapitel

Das Jüdische Filmfest Berlin & Brandenburg zelebriert die Vielfalt jüdischen Lebens als eine von Konflikten geprägte Vielfalt des Lebens an sich

Samuel Maoz’ bildstarker Antikriegsfilm „Foxtrot“ gewann im letzten Jahr den Silbernen Löwen in Venedig Foto: Giora Bejach

Von Jenni Zylka

Der Hund wittert etwas. Wahrscheinlich den Kummer seines Herrchens, das auf die Annäherung des Vierbeiners aus dem Affekt heraus mit Gewalt reagiert. Und so schleicht das Tier winselnd von dannen, und Michael Feldmann, in Tel Aviv lebender Architekt Mitte 50, bleibt neben seiner von Beruhigungsmitteln sedierten Ehefrau auf dem Bett sitzen.

Soeben hat das Ehepaar Feldmann die Nachricht vom Tod seines 19-jährigen Sohnes erhalten. Jonathan, ein Soldat, sei in Ausübung seiner Pflicht gefallen. Die Überbringer sind Militärs, und wissen genau, was den Hinterbliebenen zu raten ist: „Trinken Sie viel, am besten jede Stunde ein Glas Wasser.“ Samuel Maoz’ bildstarker Antikriegsfilm „Foxtrot“, der im letzten Jahr den Silbernen Löwen beim Filmfestival Venedig gewann, beginnt mit einem so traumatischen wie bitterbösen Paukenschlag. Doch das sich abzeichnende Verlustdrama nimmt nach dem ersten Wendepunkt einen überraschenden Verlauf: Es war ein anderer Jonathan Feldmann, der gestorben ist; der Sohn des Architekten langweilt sich noch immer als Wache an einem verlassenen Grenzposten, über den vor allem Kamele zu schreiten scheinen. Das Überprüfen der wenigen Menschen, die den Posten passieren, gerät so zur einzigen Abwechslung der in ihren absurden Alltagsritualen verstrickten Soldaten.

Maoz’ erstaunliche, dringliche und berührende Geschichte, die im Juli im Kino startet, ist Teil des Programms vom 24. Jüdischen Filmfest Berlin & Brandenburg. Wie immer zelebriert das Festival die „Vielfalt jüdischen Lebens“ – und wie immer mischen sich dabei Spiel- und Dokumentarproduktionen mit Serien und Fernsehformaten. Alexandra Deans Dokumentation „Geniale Göttin“ erzählt von der als schwer skandalöse erste Filmnackte im Film „Ecstasy“ in die Geschichte eingegangenen, jüdischen Österreicherin Hedy Lamarr, deren Liebe neben der Leinwand der Wissenschaft galt – ihre nach der Emigration in die USA als sichere Nachrichtenübertragung in Kriegszeiten ausgetüftelten Ideen zum Frequenzsprungverfahren werden bis heute beim mobilen Datengebrauch genutzt. Dean hat alle nötigen Beteiligten von Familie bis KollegInnen aufgespürt und ausgefragt, und daraus ein abwechslungsreiches Portrait collagiert. Das dennoch über eine zu zahme und erwartbare Huldigung kaum hinauskommt – was die Schauspielerin bei ihrem rastlosen Leben tatsächlich geritten hat, wieso sie ihren Adoptivsohn vernachlässigte, wie sie tickte, wird trotz, oder eher wegen der vielen wohlwollenden Talking Heads nicht klar.

Eliav Liltis Dokumentarfilm über einen weiteren großen jüdischen Künstler schafft die Nähe zum Portraitierten dagegen bravourös: Für „Kishon“ hat der Regisseur nicht nur mit den – durch die Bücher weltweit bekannten – Kindern des Schriftstellers und Filmemachers gesprochen, sondern lässt den 2005 Verstorbenen unter anderem durch ein animiertes, teilweise imaginiertes Gespräch mit einem Biografen zu Wort kommen. „Die Beziehung zur Gestapo prägte mich viel mehr als die Beziehungen zu meinen Kindern, lässt Lilti seinen Protagonisten knapp räsonieren. Und macht sich mithilfe von Amir, Rafi und Renana sowie Kishons letzter Ehefrau auf zu einem Ritt durch die Psyche des vor allem in Deutschland geliebten Humoristen, der am Ende, so drückt es sein Sohn aus, wieder bei seinem qualvollsten Trauma gelandet ist: „Der Holocaust ist sein erstes und letztes Kapitel.“ „Kishon“ ist rundes, erschütterndes, psychologisches Portrait, das seinen Protagonisten nie ausnehmen, sondern ihn schlichtweg verstehen, vielleicht sogar trösten will.

Ansonsten seien „starke Frauen“ im Fokus, kündigte das Festival an (obwohl „schwache Frauen“ – was ist beides überhaupt? – doch bestimmt ebenso erzählenswert wäre). Ein Beweis dafür seien die 13 weiblichen Filmschaffenden bei einer Gesamtanzahl von 42 Filmen. Der chilenische Regisseur Sebastián Leilo, dessen letzten zwei Werke „Gloria“ und „Eine fantastische Frau“ nach der Berlinale-Wettbewerbs-Teilnahme international ausgezeichnet wurden, setzt immerhin ebenfalls wieder auf Heldinnen: In Leilos neuen Film „Disobedience“ lässt er zwei ­jüdische Engländerinnen ihre Leidenschaft füreinander wiederentdecken, und bewegt sich damit im Spannungsfeld zwischen Glaube und Homosexualität – und den damit verbundenen Schwierigkeiten. Die Vielfalt des jüdischen Lebens ist eben immer auch die Vielfalt des Lebens an sich. Und in der kommt, ob jüdische Lesbe oder Hetero-Atheist, hoffentlich eh alles vor.

24. Jüdisches Filmfestival Berlin & Brandenburg, 26. Juni bis 5. Juli, Programm: www.jfbb.de