Kommentar von Wolf Wittenfeld über die Perspektiven nach den Wahlen in der Türkei
: Warten auf die Implosion

Am Ende war es wie immer bei Wahlen in der Türkei: Erdoğan ist der Sieger. Wer am Samstag mit Millionen anderen Menschen an der Abschlusskundgebung des Oppositionskandidaten Muharrem İnce in Istanbul teilgenommen hatte, konnte es nicht glauben, als am frühen Sonntagabend die ersten Ergebnisse über die Bildschirme flimmerten. Mehr als 60 Prozent für Erdoğan, hieß es da. Wer sollte das glauben?

Am Ende war es keine Glaubensfrage. Erdoğan holte 10 Millionen mehr Stimmen als İnce. Ein Vorsprung, der größer ist, als er durch Manipulationen hätte erzielt werden können, weshalb İnce das Ergebnis am Montag auch anerkannte.

Trotzdem waren es ganz sicher keine fairen Wahlen, die am Sonntag in der Türkei stattgefunden haben. Doch die Opposition hat sich darauf eingelassen. Trotz des Ausnahmezustandes, der sie behindert hat, trotz der geballten Medienmacht, die die Regierung ihr in völlig undemokratischer Weise entgegenstellte, und trotz der ungenierten Inanspruchnahme staatlicher Ressourcen, die Erdoğan für seinen Wahlkampf nutzte.

Zwar ist er jetzt auf dem Zenit seiner Macht, hat er alles erreicht, was er in 16 Jahren an der Regierung erreichen wollte. Und dennoch befindet sich Erdoğan bereits jetzt in der Defensive. Schon sein Wahlkampf war völlig uninspiriert und konnte auch seine eigenen Leute nicht mehr mitreißen. Was nun kommen soll, was er in der Türkei noch anstellen will – niemand weiß es.

Erdoğan hat gewonnen, weil seine Anhänger Angst vor Veränderungen haben; weil er ihnen erfolgreich eingehämmert hat, dass ein neuer Mann ihnen das wegnehmen werde, was er ihnen in den Jahren seiner Regierung gegeben habe. Doch Angst ist keine gute Basis für die Zukunft.

Außer der Sicherung seiner Macht hat Erdoğan kein Programm. Außenpolitisch ist die Türkei isoliert und wird es auch bleiben, denn niemand in Europa und unter den Nachbarn der Türkei traut diesem Präsidenten. Im Niedergang werden sich Erdoğan und seine Anhänger umso mehr an die Macht klammern. Demokratische Rechte, Meinungsfreiheit, Gewerkschaftsrechte, das alles wird wahrscheinlich noch mehr unter Druck geraten, als es ohnehin der Fall ist.

Seit Sonntag ist klar: durch Wahlen wird Recep Tayyip Erdoğan nicht mehr abgelöst werden können. Das von ihm errichtete System wird das verhindern. Was nun kommt, ist das quälende Warten auf eine Implosion der Erdoğan-Republik. Niemand kann vorhersehen, wie lange das dauern wird, ob sich das System durch innere Aufzehrung erledigt oder gewaltsam auseinanderbricht. Die Zukunft der Türkei ist vor allem eins: ungewiss.