Prozess wegen Kindesmissbrauchs: Eine furchtbare Familie

Berrin T. und Christian L. stehen vor Gericht. Sie haben ihren Sohn missbraucht, ihn an Fremde verkauft und davon Kinderpornos gedreht.

Mann mit unkenntlich gemachtem Gesicht, daneben Frau und Mann in schwarz

Christian L. (rechts) neben seinen Verteidigern im Freiburger Gerichssaal Foto: dpa

FREIBURG taz | Die Anklageschrift ist eine endlose Aufzählung von Grausamkeiten und Perversionen. 58 Vergewaltigung und andere erzwungenen sexuelle Handlungen an dem heute bald zehnjährigen Jungen zählen die beiden Staatsanwältinnen Nikola Novak und Sabrina Haberstroh auf. Das sind nur die Taten, die die beiden Angeklagten selbst auf Video dokumentiert haben. Christian L., der Hauptangeklagte, gibt in seiner Vernehmung zu erkennen, dass es weitere Taten gegeben haben muss. Vielleicht zwei bis drei mal so viele. Für den Jungen, der hier Jonas heißen soll, bedeutet das Vergewaltigung und Demütigung fast jede Woche; durch die eigene Mutter, den Stiefvater und fremde Männer. Der Missbrauchsfall von Staufen gibt einen tiefen Einblick in eine Schattenwelt.

Der Angeklagte Christian L. sitzt links von der Richterbank. Ein Mann, der zumindest für seinen Auftritt bei Gericht auf sein Äußeres achtet. Das dunkle Haar ist zurückgegelt. Über dem schwarzen Hemd, das ihn aussehen lässt wie einen schwarzen Sheriff, trägt er eine cremefarbene Steppweste. Sein Fuß wippt nervös unterm Stuhl, wenn andere reden. Mit der linken Hand, an der er eine wuchtige Uhr trägt, spielt immer wieder an seinem sorgfältig rasierten Kinnbart.

Der Mann, der sich über zwei Jahre an Jonas brutal vergangen hat, ihn anderen Männern im Internet zum Missbrauch angeboten hat, sagt, er wolle nicht seinen „eigenen Arsch retten“. Er wolle, dass Jonas „Gerechtigkeit widerfährt“. Aber sein ganzes Auftreten wirkt eher, als würde er sein Lebenswerk präsentieren. Ermittler profitierten von seiner Kooperationsbereitschaft, seine Angaben führten zur Festnahme und Verurteilung der Männer, die für Sex mit Jonas Geld bezahlt haben. Das führt stellenweise zu einem fast vertrauten Ton zwischen Richterbank und Angeklagtem.

Der Stiefvater Christian L.

Manchmal macht sich Christian L. auf groteske Art die Juristensprache zu eigen, es scheint, als habe er seine Rolle gefunden. Er sieht sich als Aufklärer. Als der Vorsitzende Richter vorschlägt, das Geständnis abzukürzen, wehrt sich L. vehement. Das komme nicht in Frage, sagt er, „schließlich bin ich hier die Hauptperson“.

Weniger auftrumpfend wirkt der 39-jährige, wenn er von seiner Jugend erzählt. Und davon, dass sich seit seiner Festnahme die ganze Familie und seine beste Jugendfreundin von ihm abgewandt hätten. Es ist eine Jugend, von der man oft in Gerichtssälen zu hören bekommt, die aber auch in dieses Fall nicht automatisch dorthin führt. Christian L. wächst in zerrütteten Familienverhältnissen auf. Er sei aus einer Vergewaltigung entstanden, erzählt ihm die Mutter. Der Stiefvater ist Alkoholiker und gegenüber der Familie gewalttätig. Jetzt im Prozess spricht L. erstmals auch davon, im Alter von sechs Jahren immer wieder von einem Stiefonkel missbraucht worden zu sein. „Ich habe mir damals einreden lassen, dass das normal ist.“

Als eine Stiefschwester auf die Welt kommt, beginnen Stationen im SOS-Kinderdorf und bei Pflegefamilien. Nach der Schule bricht er eine Ausbildung als Koch ab, Es folgen Betrugsdelikte, eine erste Haftstrafe, Wohngruppen und Arbeitsmaßnahmen. 2009 findet man erstmals Kinderpornografie bei ihm. 2010 verurteilt ihn das Freiburger Landgericht wegen sexuellen Missbrauch einer 14-Jährigen. Er hatte das Mädchen am Bahnhof angesprochen, er behauptet ihr wahres Alter nicht gekannt zu haben. Nach der Haft lernt er Berrin T. bei der Arbeit für die Tafel kennen. Er erzählt ihr bald, von seinen Neigungen. Er habe eigentlich damit gerechnet, dass sie sich abwendet. Zu seiner Überraschung habe sie aber gesagt, er habe ja jetzt für seine Taten gebüßt. Es dauert nicht lange, bis Christian L. bei Berrin T. und ihrem Sohn einzieht.

Der Mann, der sich zwei Jahre an Jonas vergangen hat, sagt, er wolle, dass dem Kind „Gerechtigkeit widerfährt“

Die Mutter Berrin T.

Man traut diesem Mann auf der Anklagebank ohne weiteres zu, dass er Schwächere manipulieren kann. Vielleicht ist diesem Talent auch Berrin T. zum Opfer gefallen. Aber das allein kann nicht erklären, warum sie sich bewusst einen vorbestraften Pädosexuellen ins Haus holt. Warum sie ihren damals siebenjährigen Sohn wenn auch anfangs widerwillig zum Missbrauch freigibt. Warum sie nicht nur dabei zusieht, wie sich auch Fremde an dem Kind vergehen, sondern ihren Sohn auch selbst missbraucht.

Experten berichten, dass Mütter in Missbrauchskonstellationen selten nur Unwissende oder selbst Opfer sind. Trotzdem bleibt diese Frau das eigentliche Rätsel in dem Prozess. Mit grauem Gesicht sitzt sie in maximaler Entfernung von Chrstian L. , die beiden Verteidiger zwischen ihnen. Berrin T.s Haar ist dünn und strähnig, der Körper wirkt aufgedunsen. Jeans und T-Shirt wirken, als wären sie eine Nummer zu klein. Während Christian L. breitbeinig auf seinem Stuhl sitzt, scheint sich Berrin T. hinter ihrem Anwalt verstecken zu wollen.

Frau im Griff von zwei Polizistinnen

Die Mutter Berrin T.: Sie soll bei den Vergewaltigungen aktiv beteiligt gewesen sein Foto: reuters

Wer hat die Handschellen mitgebracht, mit denen Jonas gefesselt wurde? Wo kam ein blauer Dildo her, mit dem sich Berrin T. in einem der gefundenen Filme allein an ihrem Sohn vergeht? Warum wurde der Missbrauch selbst dann nicht beendet, als der Junge geweint hat? Während ihr früherer Lebensgefährte seine Version dieser Fragen vorträgt, hat man im Gerichtssaal die Stimme von Berrin T. bisher nicht gehört.

Und diese Frau mit ihrem erloschenen Blick soll vor dem Familiengericht einen solch starken Eindruck hinterlassen haben, dass man davon überzeugt war, sie würde den Jungen vor dem pädosexuellen Christian L. beschützen? Als das Jugendamt im Frühjahr 2016 erfährt, dass der einschlägig vorbestrafte Christian L. bei Berrin T. und ihrem Sohn eingezogen ist, wird es noch über ein quälendes Jahr lang dauern, bis das Kind aus der Familie genommen wird und der Junge zu einer Pflegefamilie in Obhut kommt. Doch selbst dies bleibt eine nur wenige Monate dauernde Episode. Dann muss Jonas nach einer Entscheidung des Familiengerichts, die man heute nur sehr schwer verstehen kann, zurück zu seinen Peinigern.

Bei der damaligen Verhandlung vor dem Familiengericht habe es weder Erkenntnisse über den Missbrauch des Jungen und schon gar nicht über eine Beteiligung der Mutter gegeben, erklärten Gericht und Jugendbehörden in einer gemeinsamen Stellungnahme. Wie es zu einer solchen Fehleinschätzung kommen konnte, wird derzeit von den beteiligten Behörden untersucht. Ein Bericht ist für Juli angekündigt.

Nachdem der Junge zurückgekehrt war, wurde alles noch schlimmer. Filme, die den Ermittlern vorliegen, aber in der Öffentlichkeit nicht gezeigt werden, belegen dass die Handlungen immer extremer und grausamer wurden. Berrin T. war offenbar nicht nur zu schwach, um ihren Sohn zu schützen. Die Anklageschrift zählt Filme auf, bei denen Berrin T. ihren Sohn selbst missbraucht und Christian L. dazu antreibt. In einem Fall ist sie zu sehen, wie sie sich zusammen mit L. und einem pädophilen Kunden an ihrem Sohn vergeht.

Glaubt man Christian L., dann hatte er seine Lebensgefährtin Berrin T. als selbstbewusste Kollegin bei der Arbeit bei der Tafel in Bad Krozingen kennengelernt. Eine, „die sich nicht so leicht was habe sagen lassen“, erinnert er sich. Doch L. erkennt bald, dass Berrin T. vom Alltag überfordert gewesen sei, und sich wenig um ihr Kind gekümmert habe. „Ich würde sie schon als faul beschreiben“, sagt er.

L. ist wohl von Anfang an mehr an ihrem Jungen interessiert. Die Beziehung zu Berrin T. sei lange nicht sexuell gewesen, sagt er. Als Christian L. erstmals fragt, ob er mit ihrem Sohn Sex haben könnte, schlägt sie offenbar vor, er solle sich stattdessen an einem dreijährigen Mädchen vergehen, auf das Berrin T. gelegentlich aufpasst. Zu der leicht behinderten Tochter einer Bekannten habe sie ohnehin kein gutes Verhältnis. „Mit der könne er machen, was er wolle“, wird sie in der Anklageschrift zitiert. So kommt es zu den ersten Taten Christian L.s in der Wohnung von Berrin T., die erst enden, als eine Betreuerin der Kita, wegen des sexualisierten Verhaltens der Dreijährigen Verdacht schöpft. Danach erlaubt die Mutter Christian L., sich an ihrem Sohn zu vergehen.

Im Gerichtsaal scheint es anfangs, als wolle Berrin T. dem Mann der zugibt, ihr Leben zerstört zu haben, nicht in die Augen schauen. Die Angeklagten werden getrennt in den Saal gebracht und begrüßen sich nicht. Erst im Verlauf der nicht enden wollenden Aussage von Christian L. sieht man, wie Berrin T. ihn mit wachsender Bewunderung beobachtet und man ahnt etwas von den Machtverhältnissen in dieser Beziehung.

Er habe sie schon unter Druck gesetzt, gibt Christian L. zu, damit sie ihm Jonas überlasse. Nicht mit Gewalt, er habe gedroht, sie zu verlassen. Man kann nur Vermutungen darüber anstellen, wie kaputt ein Leben gewesen sein muss, wenn man den Peiniger des eigenen Kindes um keinen Preis verlieren will. Christian L. äußert vor Gericht den Verdacht, dass Jonas womöglich schon vorher sexuellen Missbrauch erfahren hat. Der Junge habe, als er sich ihm das erste Mal genähert habe, schon so „mitgemacht, dass ich dachte, da war schon mal was“.

Die Öffentlichkeit wird höchstens in Ansätzen erfahren, was Berrin T. zu all dem zu sagen hat. Die Mutter wird nur unter Ausschluss der Öffentlichkeit aussagen, hat das Gericht auf Antrag ihres Anwalts Matthias Wagner entschieden. Das hat zur Folge dass auch die Plädoyers und die Schlussworte der Angeklagten ohne Presse und Publikum verlesen werden.

Die Kunden

Wenn es um die Missbrauchsszene geht, ist immer von einem „Sumpf“ die Rede, den man meist einem bestimmten Milieu zuordnet, in dem Arbeitslosigkeit, Verwahrlosung und Gewalt an der Tagesordnung sind. Berrin T und Christian L. passen in dieses Schema. Dabei zeigen die Ermittlungen unter den Kunden, dass sich dieses Phänomen durch die gesamte Gesellschaft zieht. „Es ist nur die oberste Spitze des Eisbergs, was dieser Prozess ans Tageslicht bringt“, sagt der Chefermittler der Freiburger Kripo am Rande des Verfahrens. Drei der Männer, die man auf den Videos sieht, wie sie Jonas missbrauchen, sind bereits in getrennten Prozessen verurteilt worden. Außerdem steht derzeit ein Handwerker vor Gericht, mit dem es zu keinem Treffen kam, der aber Tötungsfantasien an dem Jungen ausleben wollte.

Zwei der Verurteilten, darunter ein Bundeswehroffizier, haben sich bei den Treffen gegenüber dem Jungen als Polizisten ausgegeben. Sie haben damit gedroht, wenn er sie nicht befriedige, müsse er ins Heim.

Der Mann, der das meiste Geld für die Treffen bezahlt hat, steht erst im nächsten Monat vor Gericht. Gonzales D., wegen seiner Herkunft „der Spanier“ genannt, hieß für Jonas „Onkel Lou“. Der Spanier hatte sich gegenüber L. als italienischer Kinderarzt ausgegeben, der in Belgien lebe. Tatsächlich reiste er zum Missbrauch jedes Mal mit Flugzeug und Leihwagen aus Spanien an. Geld schien bei ihm keine Rolle zu spielen. Die Wege von L. und Gonzales D. kreuzten sich im Darknet, auf Pädophilen-Portalen, die „Elysium“ oder „Pollenspiel“ heißen.

Gonzales D. bietet für ein erstes Treffen mit Jonas 10.000 Euro. Reisekosten sowie eine Ferienwohnung in der Region, wo der Missbrauch stattfinden sollte, gehen alles auf ihn. Es kommt zu mindestens fünf Treffen, bei denen der Mann auch versucht, den Jungen anal zu vergewaltigen. Er zahlt hohe Summen, kauft Geschenke und lädt zu einem längeren Aufenthalt in einem Freizeitpark ein. Gonzales D. stellt sogar in Aussicht, in der Region Freiburg ein Haus zu kaufen, wo Jonas, seine Mutter und sein Stiefvater mietfrei wohnen könnten. Einzige Bedingung: Für Gonzales D. stünde der Junge bei jedem Besuch bis ins Jugendalter zur Verfügung.

„Wie stand Jonas Mutter zu dieser Perspektive?“, fragt Staatsanwältin Novak. „Sie hat nichts dagegen gesagt“, sagt L. „Mich haben die Treffen von Jonas mit dem Spanier auch sexuell interessiert. Ihr ging es dagegen nur ums Geld.“ Das es um hohe Summen geht, sei auch dem Jungen klar gemacht worden.

Gonzales D. dreht an der Gewaltspirale. Beim letzten Treffen im Herbst 2017 zeigt der Spanier L. ein Video, auf dem zu sehen ist, wie er zusammen mit einem anderen Mann, ein Mädchen vergewaltigt. Am Ende wird das Kind mit einem Stethoskop stranguliert. Ermittler und Staatsanwaltschaft gegen davon aus, dass es, wie in dem Video zu sehen, tatsächlich getötet worden ist. L. sagt, er sei schockiert gewesen. Erst später ist L. aufgefallen, was „der Spanier“ Jonas einmal als Geschenk mitgebracht hat: Ein Stethoskop. Vier Wochen nach diesem Treffen, nimmt die Polizei Christian L. in Staufen fest.

Der Junge

Fesselung, Demütigung, erzwungene sexuelle Handlungen und die Auslieferung an gewaltbereite Fremde. Das Schlimmste von allem, ist vielleicht das verwüstete Grundvertrauen, das diese Taten bei einem Kind hinterlassen müssen. Vertrauen in Erwachsene, ins Leben, dass nicht alles auf Lügen und Gewalt hinausläuft. Das wichtigste im Umgang mit Jonas sei, sagt deshalb seine Anwältin, die im Freiburger Prozess als Nebenklägerin auftritt, dass man den Jungen wenigstens jetzt nicht mehr belüge und hintergehe.

Auch wenn der Missbrauch für das Kind zum Alltag gehörte, hat er offenbar nie geglaubt, dass das normal ist. Ob er Papas „kleine Hure“ sei, fragt ihn einer der Kunden auf einem Video . Mit Papa meint der Mann Christian L., der sich im Internet „geiler Daddy“ nannte. „Nein eigentlich nicht“, widerspricht der Junge seinem Peiniger. „Mein echter Papa ist tot.“ Beamte berichten, dass der Junge einfach mitgegangen sei, ohne ein Wort zu sagen oder zu weinen, als die Polizei Berrin T. bei ihrer Festnahme von ihrem Sohn trennen. Seitdem hat Jonas seine Mutter nicht mehr gesehen. Mittlerweile frage er auch nicht mehr nach ihr, heißt es aus seinem Umfeld.

Das Gericht hat Jonas eine Aussage in der Verhandlung erspart. Der Junge lebt heute bei einer Pflegefamilie, berichtet die Kriminalbeamtin, die seine Aussage aufgenommen hat und bis heute zu ihm Kontakt hält. Es gehe ihm dort gut. Doch er brauche mindestens noch zwei Jahre, bevor er überhaupt daran gehen könne, das Erlebte mit psychologischer Hilfe zu bewältigen. Bis dahin brauche Jonas vor allem eins, sagt die Beamtin: Zeit, um sich in seinem neuen Leben zurechtzufinden.

Seine Anwältin, Katja Ravat, hat in einem Interview gesagt, man merke dem Jungen an, dass er darauf getrimmt gewesen sei, zu funktionieren und nicht aufzufallen. Nur so lässt sich wohl erklären, dass er während der Zeit des Missbrauchs in der Schule nicht auffällig geworden ist. Doch Ravat sieht auch Grund zur Hoffnung. Jonas habe Ressourcen, auf die er zurückgreifen könne, um sein Leben trotz der schrecklichen Erlebnisse zu meistern. Man dürfe solchen Kindern nicht eine vermeintlich düstere Zukunft vorwegnehmen, findet sie. „Das wäre ein zweiter Übergriff.“

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