„Wir bleiben dran“

Nach hundert Tagen Amtszeit spricht die SPD-Vorsitzende Melanie Leonhard über die Ausrichtung ihrer Partei nach Olaf Scholz, den Nachholbedarf in Sachen Gleichstellung, Abbiegemanöver des grünen Koalitionspartners für den kurzfristigen Beifall und über ihre Ambitionen, Bürgermeisterin zu werden

Melanie Leonhard

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40, ist Historikerin und seit Oktober 2015 Hamburgs Senatorin für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. Seit März 2018 ist sie Landesvorsitzende der Hamburger SPD. Von 2011 bis zur Berufung in den Senat war sie SPD-Abgeordnete der Hamburgischen Bürgerschaft. Sie promovierte über die Reeder- und Schiffbauerfamilie Rickmers. Sie ist verheiratet und lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn im Stadtteil Marmstorf.

Interview Marco Carini
und Sven-Michael Veit

taz: Frau Leonhard, wie soll die inhaltliche Ausrichtung Ihrer Partei nach Olaf Scholz aussehen? Muss die Hamburger SPD linker werden?

Melanie Leonhard: Links, linker, nicht links genug … das sind kaum aussagekräftige Etiketten. Man muss sich besser um die Fragen kümmern, die die Menschen in der Stadt bewegen, ohne ihnen etwas aufzuzwingen. Das betrifft den Zusammenhalt, den Bildungsbereich, die Gleichstellung, die Zuwanderung, und auch die Mobilität in der Stadt.

Was sagen Sie, als ausgewiesene Sozialpolitikerin: Muss Sozialpolitik, Chancengleichheit, die Bekämpfung von Armut in einer der reichsten Städte der Bundesrepublik, die Integration Benachteiligter und die Bezahlbarkeit von Wohnraum wieder zum Markenkern einer sozialdemokratischen Politik werden?

War es doch immer. Seit die SPD seit 2011 in Hamburg wieder regiert, geht es um Zugang zu Wohnraum, zu Bildung, zum Arbeitsmarkt. Da bleiben wir dran. Im Übrigen geht es um Chancengerechtigkeit – und nicht Gleichmacherei. Ja, es ist noch viel zu tun, aber wir arbeiten schon die ganze Zeit an diesen großen Themen.

Allerdings nicht immer erfolgreich. Kinder- und Altersarmut in Hamburg sind eher noch gestiegen.

Ich bin fest davon überzeugt, dass wir die Wege, die wir beschritten haben, konsequent weiter gehen müssen. Gleichwohl müssen wir an bestimmten Stellen die Bemühungen noch intensivieren. Wir haben als erstes Bundesland den Rechtsanspruch auf kostenfreie Kitaplätze eingeführt. Die ersten dieser Kinder sind jetzt eingeschult worden und haben nachweislich weniger Förderbedarf. Da müssen wir sicher noch mehr machen, aber der Weg ist offensichtlich richtig.

Was muss sich am Schulsystem verändern, damit Chancengleichheit nicht ein leeres Versprechen bleibt?

Wir müssen den Anspruch auf Ganztagsschule konsequent durchsetzen. Davon profitieren massiv die Kinder, die aus einem nicht so ganz lernfreundlichen Umfeld stammen. Da müssen wir ganz konsequent sein, damit die SchülerInnen von heute morgen eine qualifizierte Ausbildung haben und ihr Leben selbstbestimmt gestalten können.

Ihr neuer Stellvertreter Matthias Bartke tritt für eine Solidarrente für Geringverdienende ein, für ein Recht auf Arbeit für Langzeitarbeitslose und die Entschärfung der Hartz-IV-Sanktionen. Stimmen Sie dem zu?

Ja, klar. Das sind Fragen der Gerechtigkeit. Wir müssen mehr tun für die, die es besonders nötig haben. Bevor wir aber lange ideologische Großdebatten darüber führen, ob ein bedingungsloses oder ein solidarisches Grundeinkommen richtiger und wichtiger ist, sollten wir erst einmal in dem bestehenden Sozialsystem alle Verbesserungsmöglichkeiten ausschöpfen. Kinderregelsätze erhöhen, Berufsbildung auch für ältere Arbeitnehmer ermöglichen und anderes mehr. Mit diesen konkreten Lösungen muss die SPD sich viel stärker beschäftigen, als sie es bislang getan hat.

Auf dem Parteitag Anfang Juni haben Sie sich wie ihre ganze Partei deutlich von Ihrem grünen Koalitionspartner abgegrenzt. Der müsse gelegentlich „untergehakt und auf den richtigen Weg zurückgeführt“ werden, sagten Sie. Haben Sie sich da nicht auf Kosten des Regierungspartners profiliert?

Eine gute Koalition ist ein Marathonlauf. Und wenn da ein Partner abbiegen will, um kurzfristig Beifall einzuheimsen, muss man ihn daran erinnern, dass man nur gemeinsam zum Ziel kommt. Ich finde es nicht gut, wenn man eine gut funktionierende Zusammenarbeit für kurzfristige Erfolge riskiert.

Sie halten die Grünen für populistisch?

Nein. Nicht die Grünen als solche. Aber einige ihrer PR-Aktionen haben viele Leute in der SPD massiv geärgert. Natürlich will man als Partei identifizierbar sein und ein erkennbares Profil haben. Aber das geht nicht auf Kosten des Koalitionspartners.

Stehen Sie zu einer Fortsetzung der rot-grünen Koalition auch nach der nächsten Bürgerschaftswahl in zwei Jahren?

Es gibt im Moment keine Notwendigkeit, sich Gedanken über Alternativen zu machen – auch wenn wir uns manchmal ein bisschen zusammen raufen müssen.

Und wann werden Sie nun Bürgermeisterin?

Dieses Amt wurde noch nie von einer Frau bekleidet, das könnte also ein Ziel sein. Bekanntlich soll man ja nie „Nie“ sagen. Aber kurzfristig ist das keine Option.