Die tiefere Bedeutung der Wassermelone

MEHR ALS EIN TANZFILM „Dirty Dancing“ wird 25 Jahre und noch immer gibt es kaum Texte über den Film. Diese Lücke schließt jetzt der Sammelband „Ich hatte die Zeit meines Lebens“. Ein Film- und Leseabend im „Monarch“

Durch die Wassermelone verhandelt der Film, der zwar voller afroamerikanischer Musik ist, aber ausschließlich unter Weißen spielt, unterschwellig auch das Thema Rassismus

VON LISA GOLDMANN

Die Liebesszene aus „Dirty Dancing“, in der Baby und Johnny eng umschlungen tanzen, bricht abrupt ab. Aufschrei des Publikums im „Monarch“ in Kreuzberg. Das hätte man jetzt schon noch gerne zu Ende gesehen, auch wenn die meisten der Anwesenden „Dirty Dancing“ sicher schon auswendig kennen.

Doch Autor Jan Kedves lässt sich nicht beirren, schließlich ist man nicht zusammengekommen, um den Film zu sehen, sondern um sich intellektuell mit ihm auseinanderzusetzen. Während er von der Bedeutung des Soundtracks erzählt, gehen noch einige Blicke sehnsüchtig zur Leinwand, auf der Baby und Johnny in einem Standbild vereint sind.

Dass auch die intellektuelle Auseinandersetzung mit „Dirty Dancing“ verdammt viel Spaß machen kann, zeigten am Dienstag im „Monarch“ fünf AutorInnen anlässlich der Buchpremiere von „Ich hatte die Zeit meines Lebens: Über den Film ‚Dirty Dancing‘ und seine Bedeutung“. Die Journalistin und Autorin Hannah Pilarczyk hat das Buch zum 25-jährigen Jubiläum des Films herausgegeben.

„Dirty Dancing wird ständig in Filmen und Fernsehserien zitiert, aber es gibt kaum Texte, die sich ernsthaft mit ihm auseinandersetzen“, sagt Pilarczyk, „genau diese Lücke füllt das Buch“. Denn „Dirty Dancing“ ist weit mehr als der dämliche Tanzfilm, als der er gerne gesehen wird. Das Buch nimmt den Film ernst, in neun Kapiteln beleuchten verschiedene AutorInnen die kulturellen, historischen und psychologischen Dimensionen, mit theoretischem Anspruch.

Fast alle der fünf im „Monarch“ anwesenden AutorInnen bekennen, den Film schon immer gemocht, ihn aber erst jetzt in seiner ganzen Komplexität erkannt zu haben. Offensichtlich hat diese Neuentdeckung ihnen große Freude bereitet, die sich schnell auf das nicht nur weibliche Publikum überträgt. Nach kurzen Filmausschnitten stellen die fünf ihre Texte vor und präsentieren ihre klugen und ziemlich steilen Thesen.

Hannah Pilarczyk nimmt sich der Entstehungsgeschichte des Films an, die eine „wahnsinnig deprimierende Geschichte“ sei. Autorin Eleanor Bergstein und Produzentin Linda Gottlieb wurden bei 43 Studios und Produktionsfirmen vorstellig, keiner wollte den Film machen. Bis schließlich ein kleiner VHS-Verleih zusagte. Das Budget war klein und auch nach Fertigstellung des Films rechneten noch alle mit einem Flop.

Wie „Dirty Dancing“ eine „marxistische Grundlektion“ erteile, erzählt Kirsten Rießelmann. Der Film lege die Verlogenheit der oberen Mittelklasse, zu der Baby gehört, offen und zeige in der Beziehung von Baby und dem Arbeiterklasse-Jungen Johnny eine „sozialistische Utopie“, in der die Klassenschranken fallen. Außerdem sei der Film einer der wenigen weiblichen Coming-of-Age-Filme, der seine Protagonistin nicht aus männlicher Perspektive zeigt und als Objekt stilisiert. Das Objekt ist hier Johnny, der fast den ganzen Film mit nacktem Oberkörper herumrennen muss.

Christine Kirchhoff hingegen sieht weder Baby noch Johnny als eigentliche Hauptfigur und Objekt der Begierde, sondern Babys Vater, den jüdische Arzt Dr. Houseman. In ihrer psychoanalytischen Untersuchung des Films erkennt sie einen eindeutig ödipalen Konflikt, sowohl Baby als auch Johnny begehren Dr. Houseman. So erzählt Johnny Baby gleich nach dem gemeinsamen Liebesakt, er habe geträumt, wie ihr Vater seinen Arm um ihn gelegt habe.

Astrid Kusser wiederum zeigt einen völlig neuen Blickwinkel auf die berühmte Wassermelone, die Baby am Anfang des Films trägt. In den USA ist die Darstellung von Afroamerikanern mit Wassermelone, die sie weißen Bauern gestohlen haben, ein bekanntes Motiv rassistischer Darstellungen. Durch die Wassermelone, so Kusser, verhandle der Film, der zwar voller afro-amerikanischer Musik ist, aber ausschließlich unter Weißen spielt, unterschwellig auch das Thema Rassismus.

Der Leseabend im Monarch macht deutlich, dass die Texte in „Ich hatte die Zeit meines Lebens“ nicht direkt aufeinander aufbauen, aber viele Bezüge zueinander herstellen, sich ergänzen und ein komplexes Bild des Films entwerfen. Wer das Buch zur Hand nimmt, wird noch viele weitere Zusammenhänge entdecken, auch wenn die Thesen hier leider nicht ganz so provokant formuliert sind wie in den Vorträgen.

Am Ende des Abends bleibt beim Zuschauer das gute Gefühl, mit „Dirty Dancing“ schon immer einen klugen und ambivalenten Film gemocht zu haben sowie der Ohrwurm „(I’ve had) The Time of My Life“, obwohl der Song den ganzen Abend nicht gespielt wurde.

■ Das Buch „Ich hatte die Zeit meines Lebens“, herausgegeben von Hannah Pilarczyk, ist im Verbrecher-Verlag erschienen und kostet 15 Euro.