Ausstellung über die Flucht vor den Nazis: Die positive Reise

Sie mussten vor dem NS-Regime fliehen. Andreas Valentin zeichnet anhand von Fotos die Geschichte seiner jüdischen Familie nach.

Eine Frau steht vor einem Fluss

Martha Valentin an der Spree hinter dem Reichstag in Berlin, 1975 Foto: Gerhard Valentin, Archiv Andreas und Thomas Valentin

Der Empfang in der Galerie im Haus am Kleistpark könnte nicht prachtvoller sein. Zwar ist das großformatige Gemälde in der zentralen Blickachse nur eine Fotokopie im Maßstab 1:1 − das Deutsche Historische Museum wollte die Leinwand nicht ausleihen –, dennoch ist leicht zu sehen, welch bedeutende Berliner Familie Anton von Werner, der Lieblingsmaler Kaiser Wilhelms I., 1887 in seinem Bild „Der 70. Geburtstag des Kommerzienrats Valentin Manheimer“ festgehalten hat.

Der Hauptdarsteller des Gemäldes hatte 1841 einen der ersten Damenkonfektionsbetriebe in Berlin gegründet. Als er starb, beschäftigte sein Unternehmen mehr als 8.000 Menschen, und infolge seines Engagements hatte sich Berlin zu einem weltweit bekannten Zentrum der Konfektionsmode entwickelt.

Anton von Werner zeigt den Jubilar im prächtigen Garten seiner Villa im Tiergarten, umringt von modisch und teuer gekleideten Damen und Kindern. Es sind seine Töchter, und eine von ihnen, Helene, heiratete 1871 Heinrich Valentin, Gesellschafter des Transportunternehmens Jacob & Valentin Spediteure.

Das Ehepaar hatte zehn Kinder. Das zweitjüngste, Bruno, berühmter Orthopäde, Hochschullehrer und Medizinhisto­riker, wurde 1936 auf Druck der Nationalsozialisten seines Amts als Chefarzt am Annastift in Hannover enthoben.

Gezwungen, aus Deutschland zu fliehen

Knapp hundert Jahre, nachdem sein Großvater Valentin Manheimer sein Konfektionsgeschäft gegründet hatte, sah er sich gezwungen aus Deutschland zu fliehen, weil er Teil einer jüdischen Familie war. Deshalb hatte auch sein Sohn Gerhard im nationalsozialistischen Deutschland nicht studieren dürfen. Er war über eine Anstellung in einer Außenstelle der Firma Wagner, Hersteller der Pelikan-Produkte in Hannover, nach Brasilien emigriert.

Dieser folgenschwere Fortgang der Geschichte der Familie Valentin ist in keinem Gemälde mehr festgehalten. Dafür aber in vielen, vielen Fotografien. Was sie besonders macht, ist, dass es sich um sehr gute Fotografien handelt, aufgenommen vor allem von Gerhard Valentin und schließlich seinem Sohn, dem Kunsthistoriker, Filmemacher und Fotografen Andreas Valentin.

„Berlin <> Rio: Spuren und Erinnerungen“, Haus am Kleistpark, Grunewaldstr. 6-7, Berlin-Schöneberg. Dienstag bis Sonntag, 11 bis 18 Uhr.

Der hat denn auch aus Fotografien und Fotofilmen, alten Familienalben, Briefen, Reisetagebüchern, amtlichen und privaten Dokumenten die Ausstellung „Berlin <> Rio. Spuren und Erinnerungen“ erstellt.

Wir werden mit einzelnen Mitgliedern der Familien seiner Großeltern und Eltern bekannt, wir sehen seinen Großvater Bruno im Ersten Weltkrieg und später im Annastift, der Klinik in Hannover. Inte­ressanterweise befinden wir uns nach 1934 mit seinem Vater Gerhard viel auf Reisen.

Der junge Mann, der ein BMW-Motorrad hat und von einer Leica träumt, fährt 1936 mit seiner Freundin nach Berlin zum Fußballfinale der Olympischen Spiele zwischen Italien und Österreich. Einen Monat zuvor war er mit seiner Mutter, seiner Schwester und dem Kunsthistoriker Georg Hoeltje, der die Reise zeichnete, mit dem Familienauto nach Süddeutschland gefahren.

Entwurzelung vermieden

Die darauffolgenden Reisen sind erzwungen, bis sich die Familie Anfang der 1940er Jahre in Brasilien wiederfindet. Sie richtet sich in Brasilien ein, vor allem Bruno Valentin ist bestrebt, sein ärztliches und chi­rur­gisches Wissen in die brasi­lia­nische Wissenschaft einzubringen.

Gerhard Valentin macht Karriere in der Papierindustrie, er heiratet 1943 die Akro­batin und Tänzerin Judy Kaiser, deren Familie aus Bayern emigriert war. Die Familien prosperieren in den 1940er und 50er Jahren mit dem Land, das sie aufgenommen hat, was eine Serie von sieben kleinen Fotoalben sichtbar macht.

Warum aber ist es durchweg so interessant und spannend, sich über die Vitrinen zu beugen und vergleichsweise winzige ­Fotos zu betrachten, Postkarten, Visitenkarten, bösartige amtliche Dokumente und akribisch geführte Reisetage­bücher? Das erklärt sich wohl damit, dass alle Reisen der Familie, ob freiwillig oder unfreiwillig, nach Andreas Valentin das waren, was der ­Anthropologe James Clifford als „positive Reise – Erkundung, Forschung, Flucht“ beschreibt, im Gegensatz zur „negativen Reise – Vergänglichkeit, Oberflächlichkeit, Tourismus, Exil und Entwurzelung“.

Letzteres, so scheint es, konnten die Valentins vermeiden, obwohl sie ja ins Exil vertrieben wurden. Es ist eine geheimnisvolle Leichtigkeit um die Bilder und Gegenstände, die gleichzeitig von einer großen Serio­sität der bewussten Auseinandersetzung mit jeder Station des Lebens berichten. „Berlin <> Rio“ ist über das Einzelschicksal hinaus ein fesselndes Exemplum von Mut, Tapferkeit und dem Vermögen zu Unbeschwertheit im Zeitalter der Flucht.

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