Der Zuschauer als Bürokrat

Ob eine WM gelingt, hängt von vielen unvorhersehbaren Details ab. Nationalelf ist Kontrollverlust. Das überfordert viele zu Hause

Wer hätte das gedacht? Cristiano Ronaldo, ausgeschieden bei der WM, angekommen bei Juventus Turin Foto: Massimo Pinca/reuters

Von Frédéric Valin

Wer keine Ahnung hat, wird sich beschweren. Gegen Real, gegen Liverpool hätte keine dieser WM-Mannschaften auch nur den Hauch einer Chance gehabt! In der Champions League wird der viel bessere Fußball gespielt! Und sogar in der Bundesliga bekommt man bessere Spiele zu sehen! Selbst Kaiserslautern hätte den Titel gewinnen können! Überhaupt: Vereinsfußball! Ganz viel besser, doller, krassomater! Da sieht man auch, was passiert! Das ist das große Ding.

Das ist richtig, aber falsch. Es ist ja gerade das Schlimme am Vereinsfußball höherklassiger Ausprägung: Man weiß genau, was passieren soll. Dann muss nur noch überprüft werden, ob die Erwartungen erfüllt werden. Der Zuschauer als Bürokrat. Jedes Spiel ist eine Seite in einem Ausmalbuch, die Linien sind vorgegeben, und wehe, eine Mannschaft malt über den Rand.

Eine Nationalmannschaft aber ist ein leeres Blatt Papier. Es gibt kaum Erklärungen vorab, warum wer wie spielt, es ist nichts vorgestanzt. Der Zuschauer muss sich die Gründe für das Spiel – und beim Spiel selbst obendrein! – denken. Er muss das ganze Turnier denken, er denkt sich die Mannschaft mehr, als sie ist. Die Herausforderung einer WM ist die Dynamik. Die Mannschaften spielen unter erschwerten Bedingungen: Es sind Teams, die man nicht zusammendenken kann, sondern irgendwie kombinieren muss. Der Zufall führt sie zusammen. Dann gilt es. Den Sinn dahinter baut jener, der es sieht.

Ob einer Mannschaft eine WM gelingt oder nicht, hängt am Ende von jenen Details ab, die vorher keiner auf dem Schirm hatte. Nationalelf ist Kontrollverlust. Das widerspricht dem Prinzip der Vereinsmannschaften, wo alles möglichst planbar sein soll.

Der wichtigste Trainer der Gegenwart ist der neurotisch kleinteilige, kontrollettige Pep Guardiola; auf ihn geht auch der risikovermeidende Ansatz des defensiven Ballbesitzfußballs zurück. Dieser ist übrigens bei dieser WM grandios gescheitert: Spanien und Deutschland wurde zum Verhängnis, dass sie als Maschine gedacht wurden, wo sie Körper hätten sein sollen. Denn dieses Prinzip der Absicherung funktioniert, wenn man Zeit hat; bei einer WM aber hat man keine Zeit. Dieses Prinzip funktioniert, wenn man Geld hat, um sich seinen Wunschzettel zusammenzuklauben.

Eine WM ist eine Improvisations­leistung

Wie prosaisch! Nationalmannschaften sind ein Ort der Unwägbarkeiten. Man muss mit dem Arbeiten, was ist, und kann sich seine Realität nicht backen. Wer hätte gedacht, dass sich Schweden zusammenfindet, trotz eines Shitstorms gegen einen ihrer Mitspieler? Wer hätte gedacht, dass Frankreich sich so zu disziplinieren versteht? Wer hätte gedacht, dass die russische Mannschaft sich so sehr an sich selbst begeistern kann? All das sind Fragen, die an die Welt gestellt werden, unvorhersehbarerweise.

Und genau das macht eine Weltmeisterschaft so unzynisch. Guardiola und seine Jünger wollen, dass ihre Berechnungen aufgehen; sie stellen sich ihre Spieler zusammen, wie sie sie brauchen, ihre Teams sind ein Baukasten, dem eine Idee, eine Bedienungsanleitung vorangeht.

Eine WM hingegen ist der Ritt auf der Rasierklinge, eine Improvisationsleistung: Die Mannschaften sind mehr als ihre Einzelteile. Dazu braucht es den emanzipierten Zuschauer, der sich eine Idee gemacht hat, oder drei, oder elf. Es braucht einen Zuschauer, der denkt, der eine Vorstellung hat. Der in der Lage ist, einen Gedanken zu fassen, ohne dass er ihm bereits vorgegeben wurde. Romantisch zu glotzen, reicht dann nicht.