„Wir waren alle ganz baff“

Der Verein „Ambulante Versorgungsbrücken“ spannt Netzwerke, coacht Angehörige und sucht Hilfen für kranke und alte Menschen. Die Vorsitzende Elsbeth Rütten über den Wandel von Familien, die Personalnot in der Pflege und die Einladung beim Bundespräsidenten

Krankenschwester, Gründerin und Vorsitzende von „Ambulante Versorgungsbrücken“ und neuerdings auch Pflegeberaterin: Elsbeth Rütten Foto: Carmen Jaspersen/dpa

Interview Simone Schnase

taz: Wo ist Ihre Unterstützung gerade am meisten gefragt, Frau Rütten?

Elsbeth Rütten: Momentan haben wir am meisten damit zu tun, Angehörige dabei zu beraten, für die „Generation Lebenserfahrung“ Hilfen zu finden und Netzwerke zu spannen.

Gibt es denn zu wenig Hilfen?

Es gibt eine ganze Menge Angebote. Aber für die Angehörigen das Richtige herauszufiltern ist sehr schwer. Nicht selten steht auch die Frage im Raum, wie kann ich meinen Angehörigen davon überzeugen, dass Hilfen notwendig sind.

Wie denn?

Angehörige haben oft bereits konkrete Vorstellungen im Kopf, welche Hilfen erforderlich sind, aber manchmal stoßen diese Möglichkeiten auf den Widerstand der Betroffenen. Wichtig ist bei unserer Arbeit vor allem, erst einmal mit den Angehörigen und den Betroffenen zu sprechen, um sich in die Situation hineinversetzen zu können. Viele kommen mit ganz tollen Ideen und Vorschlägen und wenn ich dann frage, ob sie mit ihren Eltern einmal darüber gesprochen haben, wird nicht selten deutlich, dass hier neue Brücken zwischen den Generationen gefragt sind.

Woran liegt das?

Das liegt daran, dass auch Angehörige sich manchmal in einem tradierten Rollenverständnis gefangen erleben, in einer Tretmühle, aus der sie vielleicht alleine nicht herausfinden. Ein „Blick“, das Coaching von außen, kann da manchmal sehr hilfreich wirken. Hinzu kommt aber auch, dass wir vor Ort sind, während Angehörige immer öfter ihren Familienmittelpunkt an einem anderen Ort gefunden haben. Wir übernehmen es dann, die erforderlichen Schritte zu beantragen, zu organisieren und zu vernetzen.

Ist das anders als früher?

Ja, das hat sich deutlich geändert. Familien wohnen heute nicht mehr so oft beieinander. Das liegt natürlich auch daran, dass aufgrund der technischen Möglichkeiten auch über weite Distanzen soziale Kontakte gelebt werden können. Wenn ein älterer Mensch mehrfach in der Woche mit seinem Enkel per Skype kommuniziert, dann fühlen sie sich trotz der Entfernung vertraut und nah.

Woher bekommen alte Menschen die Hilfen im Alltag, die früher oft von Angehörigen geleistet wurden?

Bremen tut hier eine ganze Menge. Die Dienstleistungszentren, die es in jedem Stadtteil gibt, sind beispielsweise ein schöner und wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Aber auch dort gibt es leider zu wenig Personal. Die Wartezeit, bis eine Nachbarschaftshelferin vermittelt werden kann, fühlt sich für den Hilfesuchenden oft unendlich lang an. Die Zentren werden außerdem nur im jeweiligen Stadtteil vermittelt. Der Mangel an hauswirtschaftlichen Hilfen ist in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen – der demografische Wandel findet auch hier seinen elementaren Ausdruck.

Ist ein Problem nicht auch, dass „Entlastungsangebote“, die von den Pflegekassen übernommen werden, nur über die Dienstleistungszentren abgerufen werden können – selbst dann, wenn es sich um so „unkomplizierte“ Tätigkeiten wie Putzen handelt?

So unkompliziert ist dies gar nicht. Einen neuen Menschen in den persönlichsten Lebensbereich herein lassen und Unterstützung anzunehmen, erfordert oft eine enorme Energie. Für die sogenannten „Entlastungsangebote“ gilt: Sie können ganz unterschiedlich verwendet werden als Beitrag, um eine hauswirtschaftliche Hilfe zu finanzieren oder auch, um andere soziale Hilfen einzubinden, die von den Kranken- und Pflegekassen anerkannt werden. Das scheint mir erst einmal vernünftig zu sein – aber natürlich kann das nur mit genügend Personal funktionieren.

Was geschieht denn mit jenen, die aus Personalmangel keine Hilfe bekommen?

Nicht selten werden dann Angehörige über das mögliche Maß hinaus gefordert. Wer zu uns kommt, den unterstützen wir, andere Chancen und Möglichkeiten mitzudenken. Manchmal vermitteln wir dann in eine Tagespflege. Wer es sich leisten kann, ist unter Umständen auch mit einer 24-Stunden-Betreuung gut versorgt. Für eine gewisse Zeit als „Lebensabschnittspartnerin“ in das Leben eines älteren Menschen integriert zu werden, kann sehr anspruchsvoll und persönlich sein.

Was tun die, die es sich nicht leisten können?

Wem das nötige „Kleingeld“ fehlt, ist auf Angehörige oder ambulante Dienstleister für hauswirtschaftliche Hilfen und die Nachbarschaftshilfen angewiesen, unsere Ehrenamtlichen helfen hier oft im Zwischenfeld der ambulanten Hilfen aus.

Wo werden Sie noch mit der Personalnot konfrontiert?

Der Personalmangel spielt in der Pflege und in der Versorgung kranker Menschen aktuell eine sehr wesentliche Rolle. Auch im Bereich der Kurzzeitpflege, die mittlerweile sehr viel bei uns angefragt wird.

Gibt es zu wenig Plätze?

Die Suche danach gestaltet sich nicht selten für die Angehörigen schwierig. Es gibt keine zentrale Stelle, die alle aktuell zur Verfügung stehenden Plätze listet. So etwas müsste unbedingt eingerichtet werden, sowohl für Angehörige als auch für Kliniken, deren soziale Dienste sich auf der Suche nach Plätzen ja ebenfalls die Finger wund telefonieren müssen. Und dann gibt es in der Tat viel zu wenig Plätze in der Kurzzeitpflege, egal, in welchen Bremer Stadtteil Sie schauen. Manche Menschen werden aus Krankenhäusern sogar nach Niedersachsen geschickt, weil es in Bremen keine Plätze gibt.

70, ist Krankenschwester und Vorsitzende des Bremer Vereins „Ambulante Versorgungsbrücken“. Er wurde 2009 gegründet, um die Schließung von „Versorgungslücken“ für Pflegebedürftige zu fordern. Heute unterstützt er Betroffene.

Rentieren sich die Kurzzeitpflegeplätze denn nicht?

Die Zahl der Langzeitpflegen steigt stetig und damit reduziert sich die Anzahl der Kurzzeitpflegeplätze in den Häusern. Dies begrenzt die Kapazitäten. Dazu kommt noch der Personalmangel. Und weil es viel zu wenig Pflegepersonal gibt, können sie auch ihre Bettenzahl nicht erhöhen – da sind wir also wieder beim Thema Personalmangel.

Sie sind ein Verein und keine Institution wie die Krankenkassen oder das Gesundheitsamt – wie finden die Menschen Sie?

Ich glaube, es hat sich im Laufe der letzten zehn Jahre einfach herumgesprochen, dass es die Ambulanten Versorgungsbrücken gibt. Wir werden empfohlen. Wir bieten ja auch nicht nur individuelle Hilfen an, sondern geben den Menschen einen Leitfaden zur Selbsthilfe an die Hand und vernetzen Anbieter und Profis. Außerdem fördern wir interkulturelle Patenschaften zwischen lebenserfahrenen Altbremern, jungen Menschen und Nachbarn.

Viele kennen die Versorgungsbrücke durch die Wohlfühlanrufe.

Ja, durch diese telefonischen Hausbesuche sind wir recht bekannt geworden. Seit drei Jahren sind wir außerdem Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenbüros, kurz: Bas. Die Patenschaften und das Projekt „Selbstbestimmt im Alter“ werden von der Bas qualifizierend begleitet und durch das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend gefördert. Ich selbst habe mich 2017 noch weiterbilden lassen zur Pflegeberaterin, damit ich auch Schulungen zu den Themen Pflege und Demenz anbieten kann.

Ihr Engagement hat sich bis zum Bundespräsidenten herumgesprochen: Sie sind im September zu Frank-Walter Steinmeiers Bürgerfest eingeladen…

Wir waren alle ganz baff und rätselten, wie der Bundespräsident von unserer Arbeit erfahren konnte. Drei Tage später wurden wir aufgeklärt. Es war die Bundesarbeitsgemeinschaft der Senioren-Organisationen, die mich vorgeschlagen hatte. Als Begleitung nehme ich Ahmed mit, einen 19-jährigen jungen Mann, den ich seit zwei Jahren als Patin begleiten darf. Er interessiert sich sehr für unsere aktuelle Politik, engagiert sich in einigen Projekten und ist stets sehr hilfsbereit – eine gelingende Integration.