Interview mit Stephan von Dassel: „Ironie kommt selten gut an“

Enfant terrible der Grünen: Stephan von Dassel macht mit markanten Statements von sich reden. Ein Gespräch über Tabus, Kritik und Selbstkritik und eine rote Ampel.

„Bürgerversammlungen sind manchmal erfrischender als Parteidebatten“, sagt Stephan von Dassel, Bezirksbürgermeister von Mitte; hier mitten in Mitte stehend Foto: Hannes Wiedemann

taz: Herr von Dassel, Sie gelten als Provokateur, grüner Sheriff und Tabubrecher. Was ist Ihnen am liebsten?

Stephan von Dassel: Mit diesen Klischees kann ich wenig anfangen. Aber wenn, dann Tabubrecher. Wobei die Frage wäre: Handelt es sich um ein gutes Tabu oder um ein schlechtes Tabu?

Was wäre ein schlechtes Tabu?

In meiner Kindheit waren es vor allem Tabus, die den damaligen Moralvorstellungen nicht entsprochen haben. Für Schwule und Lesben war es zum Beispiel tabu, sich in der Öffentlichkeit zu küssen. Das wurde aber zum Glück gebrochen.

Und gute Tabus?

Die Relativierung von Naziverbrechen, Euthanasie und das Existenzrecht Israels – da hat Deutschland eine besondere Verantwortung. Das sind wichtige moralische Leitplanken, an denen nicht gerüttelt werden darf. Ich bin aber der Meinung, dass wir uns zunehmend Denkverbote auferlegen. Und dass damit zusammenhängend auch das intellektuelle Niveau unserer Auseinandersetzung deutlich nachgelassen hat.

Was meinen Sie damit konkret?

Heute wird das Benennen von Missständen oft bereits als Tabubruch gewertet. In einer pluralistischen Gesellschaft kann man wichtige Fragen aber nicht nach dem Motto aussparen: Darüber wird nicht gesprochen, weil ich missverstanden werden könnte oder weil es unbequeme Folgefragen aufwirft.

Sie sprechen aus eigener Erfahrung. Mit der Forderung nach einem Sperrgebiet für Prostituierte im Kurfürstenstraßen-Kiez haben Sie vor einem Jahr den Zorn vieler grüner Parteifreunde auf sich gezogen. War Ihr Verhalten aus heutiger Sicht richtig?

Ja. Als Bezirksbürgermeister muss ich Missstände nicht nur benennen, sondern auch versuchen, Lösungen für sie zu finden. Die hygienischen Zustände auf dem Straßenstrich sind katastrophal. Die Toleranz vieler Anwohnenden ist schon lange erschöpft. Mit der pointierten Forderung nach einem Sperrgebiet – was in fast allen Großstädten üblich ist – habe ich Dynamik in die festgefahrene Debatte gebracht. Bezirks- und Landespolitik geben jetzt zu: Die Situation ist ein Problem. Wir müssen etwas ändern.

Was ist seither passiert?

Nach der Sommerpause werden wir zwei mobile Toiletten im Kiez installiert haben und die Straßensozialarbeit erhöhen. Wir wollen die Zonen vor Kitas und Schulen, wo Prostitution ohnehin verboten ist, ausweiten und die Kontrollen von Polizei und Ordnungsamt erhöhen.

Als Tiger gesprungen, als Bettvorleger gelandet – so hört sich das an.

Die Maßnahmen mögen klein erscheinen, sind aber der Beginn eines Änderungsprozesses und können zu einer deutlichen Verbesserung im Kiez führen. So ein Prozess ist zäher als man denkt. Man muss möglichst viele Menschen mitnehmen, um etwas nachhaltig zu verändern. Das ist wie bei einem Hausbau. Planungen und Vorbereitungen dauern ewig. Ist die Grube aber ausgehoben, geht der Bau ganz schnell.

Das klingt nach Selbstkritik. Sind Sie zu forsch?

Nein. Ich glaube nur, dass man eine klare Ansage machen muss, damit die politisch Verantwortlichen – zur Not auch mit Hilfe der Medien – eine Problemlage zur Kenntnis nehmen. Das gilt auch für die Sache mit den Obdachlosen im Tiergarten.

Auch da forderten Sie Dinge, die politisch nicht umsetzbar sind. Die Abschiebung von osteuropäischen Wohnungslosen ist wegen der EU-Freizügigkeitsregelung nicht möglich.

Der Begriff Abschiebung war von mir unglücklich gewählt. Denn es geht hier nicht darum, Straftäter oder Gefährder abzuschieben. Ansonsten bleibe ich aber dabei: Dass Menschen zum Teil in ihren Heimatländern bessere Chancen haben wieder auf die Beine zu kommen als bei uns. Und die EU-Freizügigkeit ist daran geknüpft, dass sie Arbeit haben oder realistische Chancen, welche zu bekommen. Und ohne meinen Hilferuf würde die polnische Botschaft wohl kaum in eigene Sozialarbeiter*innen für ihre Landsleute in Berlin investieren.

Gibt es für Sie noch Positionen, wo Sie voll auf Linie der Grünen sind?

Natürlich. Zum Beispiel keine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen – das sage ich immer wieder. Das Grundgesetz kennt keine Obergrenzen. Punkt. Auch in der Ökologie erweist sich alles, was die Grünen seit 40 Jahren fordern, als absolut richtig. Es ist ja fast schon tragisch, dass dieses Thema aufgrund der anderen Krisen in dieser Welt so weit nach hinten rückt. Wir sehen und spüren den Klimawandel ja.

Da war Stephan von Dassel noch Referent für Umwelt, Verkehr und Stadtentwicklung, 2008: auf einem Mittelstreifen in Berlin bei Geräuschmessungen Foto: dpa

„Ich will von mir aber gar nicht behaupten, dass ich der Tugendhafteste von allen bin“

Sie fühlen sich bei den Grünen also noch zu Hause?

Selbstverständlich. Wer kommunale Verantwortung übernimmt, merkt aber schnell, dass sich Alltagsprobleme allein mit dem Parteiprogramm nicht lösen lassen. Je näher man an der Praxis ist, desto konkreter muss Politik werden, desto weniger kann man sich in Formelkompromisse flüchten. Im Bundestag kann man immer sagen: Da brauchen wir ein neues Gesetz, das wird schon wirken. Ich hingegen muss darauf achten, dass Ordnungsamt, Jugend- und Grünflächenamt, sprich die Verwaltung, funktionieren. Abfall auf den Straßen, wildes Parken, Wohnungslose, Verkehr – die Menschen erwarten von uns, dass wir diese Dinge in den Griff bekommen.

Monika Herrmann, auch grüne Bezirksbürgermeisterin in Friedrichshain-Kreuzberg, wird von den Grünen nicht so ausgepfiffen wie Sie.

Wegen der Räumung der Gerhart-Hauptmann-Schule ist sie aus den eigenen Reihen auch stark angefeindet worden. Man muss sich abgewöhnen, es allen Recht zu machen wollen. Bei Konflikten sage ich immer ganz deutlich in meine Partei hinein: Ich bin der Bezirksbürgermeister von 280.000 Bewohnerinnen und Bewohnern in Mitte. Und nicht der von 600 Mitgliedern von Bündnis 90/Die Grünen in Berlin.

Was für ein Bezirksbürgermeister wollen Sie sein?

Einer, der den Menschen auf Augenhöhe begegnet, die Sorgen ernst nimmt, Probleme anpackt, ihnen aber auch begreiflich macht, wo die Grenzen politischen Handelns sind. Dazu gehört auch, den Leuten zu erklären, warum nicht jedes falsch parkende Auto abgeschleppt werden kann. Auch damit lässt sich Politikverdrossenheit entgegenwirken.

Was für ein Mensch muss man sein, um das alles zu schaffen?

Man braucht Leidenschaft und die Überzeugung, Dinge zum Positiven verändern zu können. Man darf nicht nachtragend sein und sich nicht entmutigen lassen.

Sind es eigentlich eher Spießer, die sich mit Beschwerden an Sie wenden?

Ich finde Beschwerden nicht spießig. Viele Menschen stört es, wenn Regeln nicht eingehalten werden.

„Ich bin der Meinung, dass wir uns zunehmend Denkverbote auferlegen. Und dass damit zusammen- hängend auch das intellektuelle Niveau unserer Auseinander- setzung deutlich nachgelassen hat“

Sie selbst auch?

Ja, natürlich.

War das bei Ihnen immer so?

Die Regeln in unserem Staat sind in der Regel dazu gemacht, die Schwächeren zu schützen, sei es im Verkehr, sei es in der Arbeitswelt.

Hatten Sie nie in Ihrem Leben anarchistische Anwandlungen?

(lacht) Als Jugendlicher hatte ich auf meine Wildlederschuhe mal ein Anarcho-A und ein Peace-Zeichen gemalt. Ich weiß auch noch, welche Postkarte ich am liebsten verschickt habe: Eine Zeichnung, auf der zwei Arbeiter und ein Anarchie-Zeichen abgebildet waren. Unterm Bild stand: Es wird ein Lächeln sein, das euch besiegt. Was auch immer mit „euch“ gemeint war. Aber ein Staat ohne Regeln schützt nicht die Freiheit, sondern den Stärkeren – zulasten derer, die Schutz brauchen.

Wann kam Ihnen diese Erkenntnis?

Schon relativ früh.

Schwarzfahren und andere kleine Regelbrüche sind Ihnen also vollkommen fremd?

Natürlich habe ich als junger Mensch nicht immer eine Fahrkarte gehabt.

Aber heute haben Sie eine?

Ja, aber ich fahre fast alles mit dem Rad. Ich will von mir aber gar nicht behaupten, dass ich der Tugendhafteste von allen bin. Ich erinnere mich an den Wahlkampf 2016, da hat mich die Fahrradstaffel der Polizei beim Rotfahren über eine Ampel erwischt.

Ach nee.

Ja, ja.

Ging das durch die Medien?

Nein.

Das hat die taz jetzt exklusiv?

Vollkommen exklusiv (lacht). Der freundliche Polizist hat meine Daten genau unter einem Wahlplakat aufgenommen, auf dem ich abgebildet war. Das hat der Kollege sehr nonchalant übersehen. Ich habe dann meine 80 Euro bezahlt. Es war ein minder schwerer Fall, habe ich dabei gelernt. Das war's.

Auch die beruflichen Termine absolvieren Sie mit dem Rad. Wie gelingt Ihnen das?

Mitte ist flächenmäßig ein verhältnismäßig kleiner Bezirk. Mit dem Fahrrad spare ich viel Zeit und sehe mehr von meinem Bezirk. Anzüge und Radfahren vertragen sich leider schlecht. Aber viele Termine verlangen Anzug – nicht zuletzt die Geburtstagsbesuche bei unseren 100-Jährigen.

Mit 17 Jahren sind Sie bei den Grünen eingetreten. Gab es damals einen Auslöser – oder auch mehrere?

Das Waldsterben hat mich sehr bewegt. Das andere war die Nato-Nachrüstung. Und die Grünen hatten zu jener Zeit von Petra Kelly bis Joschka Fischer Persönlichkeiten, die mich zutiefst beeindruckt haben.

Über Ihre Mutter ist immer der Satz zu lesen: Sie habe mit Rudi Dutschke demonstriert.

Sie hatte in Berlin als Krankenschwester gearbeitet. Rudi Dutschke hat sie persönlich nicht gekannt. Sie hat 1967 mitdemonstriert, auch gegen die Bild-Zeitung. Zwischen ihr und meinen Großeltern gab es Auseinandersetzungen, weil sie mich im Kinderwagen zu den Demonstrationen mitgenommen hat. Die Großeltern fanden das für mich zu gefährlich.

Ihre Mutter war alleinerziehend?

Am Anfang meines Lebens ja. Mein leiblicher Vater ist Grieche, die beiden haben sich aber früh getrennt. In der Statistik würde ich wohl als jemand mit Migrationshintergrund gelten. Was zeigt, wie wenig aussagefähig diese Klassifizierung ist.

Worauf wollen Sie hinaus?

Es wird suggeriert, dass Erfolg und gesellschaftliche Teilhabe davon ­abhängen, ob man einen Migra­tionshintergrund hat. Dabei bestimmt ­Bildung über deine Zukunft viel mehr als ­alles andere. Umso schmerzhafter ist es, wenn im Wedding teilweise über ­zwanzig Prozent der Schüler*innen ihre Schule ohne Abschluss verlassen.

Was unternimmt denn der Bezirk dagegen?

So viel er kann, auch wenn es im ­Moment mangels geeigneter Grundstücke und fehlenden Personals nicht gelingt, genug Kitaplätze zu schaffen. Ohne zusätzliche Lehrer, kleinere Klassen und engere Betreuung verlieren wir den Kampf gegen die niederdrückenden Verhältnisse, in denen viele Kinder und Jugendlichen aufwachsen. Manchmal stelle ich mir vor, das ganze Geld für den Flughafen wäre in Personal in Schulen und Kitas investiert worden.

Ist das alles nur eine Frage des Geldes?

Natürlich nicht. Kein Jugendlicher ist gezwungen, Schule zu schwänzen oder Drogen zu verticken statt in die Theater-AG zu gehen. Ich finde das Motto „Fördern und Fordern“ immer noch richtig. Aber ohne Perspektive kann ich nicht fordern. Wir bemühen uns daher im Bezirksamt, auch Jugendlichen mit schlechten Bildungsabschlüssen einen Weg in den öffentlichen Dienst aufzuzeigen.

Sind Sie ein Workaholic?

Nein, aber 60 Stunden in der Woche sind schon der Normalfall. Dass sie nicht genug arbeiten, kann man Politiker*innen in exekutiver Verantwortung bestimmt nicht vorwerfen. In einer Sprechstunde hat mich ein Bürger mal damit konfrontiert, dass er in seiner Lieblingskneipe Hausverbot hat. Und er fand, es sei nun meine Aufgabe, zwischen ihm und dem Wirt zu vermitteln. Die Ansprüche, die die Menschen an die Politik stellen, sind schon hoch.

Sie werden als ehrlicher, aber emotionsloser Mensch beschrieben. Wie sehen Sie das?

Die Menschen, die mit mir zu tun haben wissen, dass mich ihre Sorgen berühren, dass ich versuche zu helfen, wo ich kann. Auf der anderen Seite werden wir in dem Amt nicht für Gefühle bezahlt, sondern für Problemlösungen. Von Betroffenheitsrhetorik kann sich niemand etwas kaufen – am allerwenigsten die, die Unterstützung brauchen. Und, was ich noch gelernt habe: Ironie kommt in der Politik selten gut an.

Sie wären gern ironisch?

Ja, aber es gibt immer jemanden, der es missversteht.

Haben Sie ein Beispiel?

Als ich Sozialstadtrat war, habe ich meine Mitarbeiter*innen im Sommer immer zu zwei Kugeln Eis eingeladen. Für zwei Stunden stand der Eiswagen auf meine Kosten vor dem Sozialamt. In einer E-Mail hatte ich das einmal mit diesen Worten angekündigt: „Vorsicht! Die Polizei warnt! Don Gelatto lauert Ihnen wieder auf. Er hat zwei Kugeln für Sie. Mit fantasievollen Tarnungen hat er sich bisher noch jeder Festnahme entziehen können – letztmalig in einem Eiswagen, der auffällig vor Berlins größtem Sozialamt stand“ und so weiter.

Wie endete die Geschichte?

Einige meiner Mitarbeiter*innen fanden das absolut geschmacklos. Sie warfen mir vor, die steigende Kriminalität im Wedding und die zunehmende Aggressivität vieler Kunden zu verharmlosen. Eine E-Mail an 250 Beschäftigte funktioniert leider nur sehr nüchtern.

In so einem Amt ist man nie frei?

Richtig. Ich würde auch manchem Bürger gern mal sagen: Haben Sie einen Vogel? Um welchen Scheiß soll ich mich eigentlich noch kümmern? Oder wenn in politischen Gremien zu abgehoben diskutiert wird. Bürgerversammlungen sind manchmal erfrischender als Parteidebatten.

Wo lassen Sie den ganzen Stress?

Beim Rennradfahren. Das ist wirklich super. Oder beim Tanzen. Ich gehe gern mal in Clubs, sofern man mich in meinem Alter noch reinlässt. Ich schränke mich in der Öffentlichkeit nicht ein – außer bei Roten Ampeln. Da versuche ich jetzt, ein besseres Vorbild zu sein.

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