Kolumne German Angst: Hier und dort – und immer ohne Netz

Wer pendelt, dem fehlt immer etwas: die Zahnbürste oder die Übersicht. Wer schläft da zum Beispiel in einem meiner Betten?

Eine Regionalbahn vor dem Windpark Prenzlau

Deutschland-Pendeln: Grüner wird's immer Foto: Paul Langrock/Agentur Zenit

Als wäre die große Welt nicht schon unübersichtlich genug, verliere ich auch immer öfter den Überblick über meine kleine. Ich bin Pendlerin. Obwohl, eigentlich bloß Luxus-Pendlerin, denn ich fahre nur mehrmals wöchentlich. Das ist eine Mischung aus „Und täglich grüßt das Murmeltier“ und Roadmovie mit Low-Budget-Charme und ohne Musik. Die Tonspur ist auf dem Weg verloren gegangen.

Mein Reisegepäck: 1 x T-Shirt, 1 Set Unterwäsche, so etwas wie 1 x alte Porreestange oder 2 x dellige Paprika, die von einem in den anderen Kühlschrank geht, ¼ Tüte Vollkornbrot. Das Problem: Wenn ich am einen Ort aufbreche, habe ich vergessen, was ich am anderen Ort überhaupt habe. Und andersherum. Ein paar eilige Schnappschüsse des Kühlschrankinhalts auf meinem Handy zeugen von der Vergesslichkeit.

Meine Eltern rufen an. Statt zu fragen, wie es mir geht oder ob es gerade passt, sagen sie: Hallo, wo bist du? Was sie meinen ist: In welcher Stadt oder in welchem Zug steckst du heute? Ich weiß das manchmal selber nicht. Der RE ist Zwischenraum, hier flackert das Raumzeitkontinuum. Stabil ist nur eins: kein Netz, nirgends. Ob ich nach Norden oder Süden fahre, fällt mir oft erst ein, wenn ich mein Handyticket studiere. Felder, Wälder und Wiesen – die sehen so herum wie so herum genauso aus.

Ich wache auf. Aber in welchem Bett? Manchmal fehlt zu dem Bett auch noch die Stadt. Dabei ist es doch ganz einfach. Vor dem einen Fenster: Totenstille bis auf Vogelgezwitscher. Vor dem anderen: Kakophones Partygetöse bis der Berufsverkehr beginnt.

Der RE als Wurmloch

Irgendwann liegt dann mal ein anderer in meinem Bett. Ist das gar nicht mein Wochenende in der einen, sondern der anderen Stadt? – Verwirrend. Man beginnt an seiner Organisationsfähigkeit zu zweifeln, einerseits. Andererseits: Nimmt man's auch nicht mehr so schwer.

Dann kaufe ich eben am einen Ort noch ein Ladegerät, obwohl ich am anderen schon vier habe (während es sich mit den Zahnbürsten genau andersherum verhält)! So ähnlich verhält es mit dem ganzen anderen Kram: Die einen Freunde da, die anderen dort. Den gelben Sack hier holen, den Reisepass dort. Steuerunterlagen hier, Verträge dort. Die einen Bücher hier, die die ich brauche – immer! – dort.

Digital Detox ist Trend. Schlimm. Dieser schlimme Euphemismus der Großstadtverwöhnten! Aber im eigenen Leben ist kein Netz – nicht cool. Genauso wenig wie: keine Fachärzte, keine Bank, kein Späti, Geschäfte und Behörden mit Öffnungszeiten wie einem Witz. Ich nutze meinen Urlaub, um in einer Stadt zum Arzt zu gehen und Dinge zu kaufen, die ich dann mit in die andere Stadt nehme.

Was ich nicht im Kopf habe, habe ich im Smartphone. Hoffentlich zumindest. Ein undurchdringliches Datenlabyrinth. Super chaotisch, doch super organisiert. Für jede Kleinigkeit poppt eine Erinnerung auf. Weil sie sonst auf der Fahrt im RE vergesse, wie in einem Wurmloch. Das Zugfahren jedenfalls war lange meine produktivste Zeit. Wie viele Kolumnen habe ich im ICE und sei es auf dem Gang hockend geschrieben? Aber auch das hat jetzt ein Ende. Denn mal ehrlich: ohne Netz keine Kolumne.

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Vollzeitautorin und Teilzeitverlegerin, Gender- und Osteuropawissenschaftlerin.

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