Uli Hannemann
Liebling der Massen
: Eine Diktatur wäre gut

Am Bahnhof Westkreuz kann ich mich mal wieder nicht entscheiden: Steige ich hier in die Ringbahn um oder fahre ich eine Station weiter bis Charlottenburg, um von dort die U-Bahn zu nehmen?

Mit der Ringbahn dauert es länger, aber ich fahre lieber S-Bahn. Es ist hell und man sieht was von der Stadt, auch wenn ich die schon kenne. Die U-Bahn mag ich nicht. Es ist dunkel und langweilig, die Fahrgäste wirken verhärmt und böse. Manche wollen auch Geld. Aber ich wäre schneller zu Hause, und bei mir zuhause ist es sehr schön. Der Kühlschrank ist voll, das Bett ist weich, auf dem Balkon scheint den ganzen Tag die Sonne. Und nicht zuletzt wohne ich dort, was den Ort noch einmal in besonderem Maß veredelt.

Zu viele Optionen tun mir allerdings nie gut. Schon zwei sind eine zu viel. Für so etwas ist mein Mind Set echt nicht geschaffen. U-Bahn oder S-Bahn. Bier oder Wein. Punkt oder Komma. All diese Fragen ficken mein Gehirn. Für mich wäre es in jeder Lebenslage besser, der Weg wäre einfach vorgezeichnet. So wäre eine Zwangsheirat mein maßgeschneidertes Konzept. Zusammen alt werden, zusammen sterben – was ist denn daran so schlimm, von Alter und Tod vielleicht abgesehen? Eine Diktatur wäre für mich entsprechend die perfekte Regierungsform. Die sollen mir halt sagen, was ich tun soll. Am besten immer nur eine einzige Sache. Warum muss denn alles immer so schrecklich kompliziert sein?

Während des kurzen Halts bin ich aufgesprungen, setze mich wieder hin, erhebe mich erneut, laufe unter anklagenden Selbstgesprächen zur Tür, dann wieder zurück zu meinem Platz, nur um mich dort endlich doch noch mal aufzuraffen und auf den Bahnsteig hinauszuhuschen: Na, geht doch, ein Mann, ein Entschluss – ich steige in die Ringbahn um.

Die Bahn fährt an. Ich habe es gerade noch geschafft – zur einen Tür raus und zur anderen wieder rein, in denselben Wagen –, das Abfahrsignal hat schon getutet. Sofort wird mir bewusst, dass ich einen Riesenfehler begangen habe. Jetzt muss ich gleich in die verhasste U-Bahn umsteigen.

Doch das ist im Moment noch nicht einmal mein Hauptpro­blem. Viel mehr beschäftigt mich, was die anderen Leute hier in der S-Bahn über mich denken: wieso ich aus dem Zug raus und dann wieder rein bin. Das ist nämlich noch so eine Meise von mir. Ich glaube mich unter ständiger Beobachtung und Bewertung. Aus tiefem Selbstzweifel heraus spiegle ich mich fortwährend in meiner mutmaßlichen Außenwirkung. Nur so vergewissere ich mich meiner Existenz.

Dabei habe ich jedoch Angst vor einer negativen Meinung der Mitfahrer. Dass sie mich für notorisch unentschlossen oder gar verwirrt halten könnten. Am Ende ziehen die noch die Notbremse und lassen mich abholen. Knast oder Klapse.

Daher erwäge ich, mich mittels einer kleinen öffentlichen Ansprache zu rechtfertigen. Dass ich einen dringenden Anruf „von der Oberaufsichtsbehörde“ erhalten hätte, dass mein kurzfristiges Erscheinen andernorts erforderlich sei. „Was für ein hochsympathischer Tausendsassa“, sollen sie denken, „eben noch hier, im nächsten Moment schon dort. Der ist bestimmt sehr wichtig. Und klug. Und all das zusammen macht ihn auch noch überaus schön.“ Sie sollen mich und mein Leben für spannend, spontan und rätselhaft halten. Sie sollen mich beneiden.

Das Blöde ist nur: Die haben mich gar nicht bemerkt. Sie wissen auch nichts von den Kämpfen in meinem Kopf. Und selbst wenn sie davon wüssten, wäre es ihnen piepschnurzegal. Sie kennen mich nicht und wollen mich auch nicht kennenlernen. Ich könnte ihretwegen zur Hölle fahren. Ob mit der U- oder S-Bahn ist ihnen ebenfalls gleich.