Das gestohlene Tagebuch

Der tschechische Schriftsteller Ivan Binar erzählt von seiner durchzechten Besatzungsnacht

Foto: privat

Am Abend des 20. August tranken wir Wodka in einer Berghütte im Riesengebirge, dicht an der Grenze zu Polen. Es war zollfreier Wodka vom Flughafen von Oslo. Mein Freund Dalibor Střída war gerade aus Norwegen zurückgekehrt. Er schmeckte uns, auch wenn er russisch war.

Ob er keinen Drang hatte, dort zu bleiben, fragte ich Dalibor. „Dafür gibt es keinen Grund, wenn jetzt bei uns Freiheit herrscht. Ich bin doch nicht blöd!“, meinte er entschlossen. Wir nahmen an, dass uns nichts bedrohte, dass sich die Tschechoslowakei in Richtung echter Demokratie entwickeln würde. Es schien, als seien wir auf dem richtigen Weg: Zensur gab es keine mehr, und wir dachten, dass freie Wahlen abgehalten, politische Parteien wieder erlaubt und wir heimkehren würden. Nach Europa.

Kurz vor Morgengrauen stürmte ein weiterer Freund, Jarda Malíček, in mein Zimmer, seine Augen waren weit aufgerissen und sein Kinn zitterte: „Steh auf! Okkupation! Die Russen haben uns überfallen und mit ihnen die Polen, die Ostdeutschen, die Ungarn, der ganze Warschauer Pakt.“ Wir öffneten das Fenster und hörten die Flugzeuge.

Am Morgen liefen wir auf die Bischofskoppe. An die Grenze, über die die Besatzer zu uns kamen. Aus polnischem Gebüsch sprang ein Grenzsoldat heraus. Er hatte den gleichen Tarnanzug an, den auch ich beim Militärdienst getragen hatte, die gleiche Gürtelschnalle, die Maschinenpistole Modell 58. Nur statt des böhmischen Löwen war ein Adler auf der Mütze. Aufgebracht fragten wir ihn: Warum denn auch die Polen? Wir schrien ihn an, als ob er schuld daran wäre.

Detailliert habe ich Tagebuch geführt über die folgenden Ereignisse, über die wir aus dem noch freien Rundfunk und illegalen Zeitungen erfahren haben. Es war bestimmt für unseren David – damals war er fast zwei.

Das Tagebuch hat mir die Staatssicherheit gestohlen, als sie mich am 25. Februar 1971 verhaftete. Später wurde ich für meine ablehnende Haltung zur Besatzung zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt.

Protokoll: Alexandra Mostyn