Die Bäume zwischen den Baracken

Wie erzeugt man ein Bild der Geschichte, die kaum Spuren hinterlassen hat? Ein internationales Jugendcamp beschäftigte sich mit der NS-Zwangsarbeit in Berlin. Die Ergebnisse sind facettenreich

Teilnehmerin Mina Marković experimentiert mit Fokuseinstellungen auf dem NS-Zwangsarbeitsgelände in Schöneweide Foto: Mina Marković

Von Vanessa Prattes

Zwischen Baracke fünf und sechs stehen einzelne Gruppen von Jugendlichen. Sie schauen auf Fotografien, die dort im Schatten der Bäume aufgehängt sind, diskutieren laut auf Englisch, und gelacht wird auch. Die einladende Erscheinung der modernisierten Baracken trügt. Wo sich heute eine friedliche Atmosphäre mit Vogelgezwitscher und Kinderlachen im Hintergrund ausbreitet, waren einst Leid und Tod allgegenwärtig. Denn dies ist der Ort des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers Schöneweide, das mit 13 Unterkunftsbaracken ab Ende 1943 unter der Leitung Albert Speers inmitten eines Wohngebietes errichtet wurde.

Hier lebten rund 2.000 ZwangsarbeiterInnen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Seit 2015 findet sich nun in einer der Baracken eine internationale Jugendbegegnungsstätte.

Zum dritten Mal trafen sich in diesem Sommer auf dem Gelände des NS-Zwangsarbeit-Dokumentationszentrums Freiwillige zwischen 18 und 25 Jahren aus zehn Ländern zu einer fotografischen Spurensuche. In einem zweiwöchigen Sommercamp des Dokumentationszentrums in Kooperation mit dem Service Civil International (SCI) erkundeten sie mit Kameras die Schauplätze nationalsozialistischer Zwangsarbeit im Berliner Stadtraum.

Die Teilnehmer reisten aus der Türkei, der Ukraine, Spanien, Russland, Taiwan, Serbien, Weißrussland, Ungarn, Rumänien und Deutschland an. „Aufgrund der verschiedenen Herkunftsländer bieten die Teilnehmer viele Narrative und eine interessante Multiperspektivität auf das Thema“, findet Merle Schmidt, Leiterin der Jugendbegegnungsstätte. Die fotografische Spurensuche sei ein beliebtes Format des SCI. Sie stelle einen moderneren Zugang im Umgang mit Geschichte dar.

Die Teilnehmer könnten „Berlin abseits der klassischen Sehenswürdigkeiten“ kennenlernen und sich mit der Geschichte vertraut machen. Solch ein Projekt sei vor allem aktuell aufgrund der politischen Entwicklungen wichtig, sagt Daniela Geppert, Leiterin der Bildungsabteilung. Es baue Vorurteile ab.

In den ersten Tagen lernte sich die Gruppe kennen. Einer Einführung in die Fotografie mit Technik und künstlerischen Ansätzen folgte eine historische Aufarbeitung des Nationalsozialismus und speziell der Zwangsarbeit. Viele Teilnehmer hatten sich zuvor zwar mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust beschäftigt, nicht jedoch mit der Zwangsarbeit.

In den Lücken der Riesenstadt

„Zu jener Zeit war Berlin mit Holzbaracken nur so überzogen. In jeder noch so kleinen Lücke der Riesenstadt hatten sich Fluchten brauner, teerpappegedeckter Fichtenholzquader eingenistet“, schrieb François Cavanna 1979 in seinem autobiografischen Roman „Les Russkoffs“, in dem er seine Zeit als Zwangsarbeiter in Berlin verarbeitet. In rund 3.000 Berliner Lagern lebten im Verlauf des Zweiten Weltkriegs etwa eine halbe Million Zwangsarbeiter in unmittelbarer Nachbarschaft zu der Berliner Bevölkerung: über 380.000 zivile Arbeitskräfte, über 70.000 Kriegsgefangene, rund 10.000 Häftlinge in Außenlagern des KZs Sachsenhausen und mehr als 20.000 Juden.

Einen zersprungenen Teller, eine große leere Metallbox und andere unter Laub und Moos begrabene Gegenstände hat Mei-Yu als Motive für ihre Fotografien gewählt. Dort im Stadtteil Wilhelmshagen, wo einst das „Arbeiterdurchgangslager Berlin Ost“ stand, von wo aus die in Güterzügen eintreffenden Zwangsarbeiter auf die Betriebe der Stadt verteilt worden sind, hat die Studentin „Gegenstände menschlicher Zivilisation“ gesucht und auch gefunden. „Diese Menschen waren dort, aber ihre Spuren sind heute nicht mehr sichtbar“, sagt die aus Taiwan stammende Studentin. In ihrer Schulzeit in Taiwan habe sie sich mit dem Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust beschäftigt, jedoch nur oberflächlich.

Gegenüber steht die Leinwand von Jovana Đjokić. Die junge Serbin hat ein Familienmitglied im Konzentrationslager verloren und erzählt stolz von dem Mut ihres Urgroßvaters. „Mein Urgroßvater konnte sich vor dem KZ retten, indem er aus dem Transportzug gesprungen ist.“ Die Nachforschungen an den ehemaligen Orten der Zwangsarbeit hätten sie bewegt. „Aufgrund meiner Familiengeschichte und der Erzählungen war es am Anfang schon hart“, sagt die Studentin, doch für sie habe sich durch die Fotografie eine neue Perspektive auf die Geschichte eröffnet.

„Die Fotografie ist gut geeignet, um genauer hinzuschauen. Sie ermöglicht, die Geschichte aus der Gegenwart zu erzählen“

Susanne Keichel, Fotografin

Neben der historischen Beschäftigung stehe auch eine Professionalisierung im Bereich der Fotografie im Vordergrund. „Die Fotografie ist gut geeignet, um genauer hinzuschauen. Sie ermöglicht die Geschichte aus der Gegenwart zu erzählen“, sagt die Fotografin Susanne Keichel, die die Teilnehmer unterstützt.

Mina Markovićexperimentierte bei ihren Fotografien mit Fokuseinstellungen. „Es ist schwierig die Emotionen von Geschichte einzufangen.“

Ein Bild ist mit dem Fokus auf die Rinde eines Baumes zwischen Baracke fünf und sechs aufgenommen worden. Im Hintergrund sieht man verschwommen den Umriss der Baracke. „Die Baumrinde zeigt die aktuelle Relevanz der Zwangsarbeit, die mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht verschwunden ist“, sagt sie.

Neben Außen- und Innenaufnahmen verlassener ehemaliger Orte der Zwangsarbeit fällt ein bearbeitetes Archivbild auf. Zunächst scheint die Schwarz-Weiß-Fotografie eine Szenerie einer glücklichen Familie mit Mutter, Vater und der lachenden Tochter widerzuspiegeln. Doch die Idylle hat Mina Marković, durch das Ausschneiden des Mannes aufgehoben. Die Umrisse des Mannes, der in Köpenick starb, füllt sie mit einem roten feuerartigen Hintergrund. Seinen Oberkörper ziert nun eine Hakenkreuzflagge.

Èlia López aus Spanien, die bereits mit fotografischen Vorkenntnissen nach Berlin kam, hat sich mit dem Thema Mauer und Grenzen beschäftigt. Dafür besuchte sie das Jüdische Museum in Berlin. Eine Schwarz-Weiß-Fotografie zeigt eine junge Frau, die vor zwei zusammenlaufenden Wänden sitzt. Nur durch einen schmalen Schlitz dringt Tageslicht in den Betonbau, den „Holocaust-Turm“ des Museums. „Ich wollte eine bedrückende Atmosphäre schaffen und zeigen, welches Gefühl Grenzen vermitteln“, sagt die 25-Jährige und schaut auf das offene Fenster, vor dem vor rund 70 Jahren noch Gitter waren.

Bis Ende des Jahres sind die Ergebnisse des Workshops im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide zu sehen. Di.–So. 10–18 Uhr, Do. 10–20 Uhr