„Sie wollen nicht, dass ihr Kind sich blamiert“

Hausaufgaben sollen selbstständiges Lernen fördern. Doch für Kinder ängstlicher Helikopter-Eltern sind sie ein Risiko, ebenso für Kinder aus bildungsfernen Familien, warnt der Erziehungswissenschaftler Hans Brüggelmann

Hausaufgaben ohne Eltern: Maria Alejandra, 12, Nicaragua Foto: Kathrin Harms/laif

Interview Kaija Kutter

taz: Herr Brügelmann, Hamburgs Schulsenator Ties Rabe fordert mehr Hausaufgaben. Machen Hausaufgaben Sinn? Was sagt die Forschung?

Hans Brügelmann: Das ist differenziert zu sehen. Die Studien, die es gibt, beziehen sich auf verschiedene Länder, verschiedene Schulstufen mit einem unterschiedlichen Selbstständigkeitsgrad der Schüler und unterschiedliche Fächer. Mal geht es um Vokabeln lernen, dann um das Schreiben von Aufsätzen. Deshalb kann man nicht generell sagen: Hausaufgaben sind gut oder schlecht.

Aber sagt nicht die Meta-Studie des Australiers John Hattie: Es profitierten eher ältere, leistungsstarke Schüler als Grundschüler und leistungsschwächere Schüler?

Stimmt, aber auch innerhalb dieser Gruppen gibt es wieder sehr große Unterschiede.

Können Hausaufgaben Schülern auch schaden?

Es gibt zwei Risikolagen. Das eine Kind kommt nach Hause, wo der Haushalt chaotisch ist, und es keinen Platz hat, um sich in Ruhe um die Hausaufgaben zu kümmern, und wo es keine Hilfe bekommt. Für diese eher vernachlässigten Kinder sind Hausaufgaben eine Falle, weil sie sie nicht erledigen können.

Das andere Risiko?

Das sind die sogenannten Helikopter-Eltern. Ihr Kind kann über Hausaufgaben nicht lernen, selbstständig zu arbeiten. Denn Mama oder Papa erledigen das für sie oder kontrollieren so stark, dass das Kind eine Abwehr entwickelt. Auch ihnen hilft die Hausaufgabe nicht. Was der Schulsenator erreichen will, dass die Kinder lernen, selbstständig zu lernen, können Hausaufgaben für diese beiden Gruppen nicht leisten.

Erklären Sie noch mal genauer, worin besteht das Risiko?

Wir müssen schauen, wozu brauchen wir Hausaufgaben? Zum einen geht es um das Üben, etwa das Einmaleins oder Rechtschreibung im Grundwortschatz. Dafür reicht die Zeit in der Halbtagsschule nicht. Darum gibt sie auf, dies nachmittags zu Hause zu machen. Die zweite Hausaufgabenfunktion ist, dass ein Kind lernt, ohne Fremdantrieb auf ein Ziel hin zu lernen, eben selbstständig zu arbeiten. Dann haben aber manche Eltern die Sorge, ihr Kind blamiert sich und bekomme schlechte Noten, deshalb helfen sie mit.

Wo liegt die Grenze zwischen Helikopter-Haltung und guter Förderung?

Eltern sollten den Kindern schon für Fragen bereit stehen, aber es zunächst ermuntern, selbst den nächsten Schritt zu machen. Wenn ein Kind etwas nicht verstanden hat, sollten Eltern ihr Kind ermutigen, dies dem Lehrer zu sagen. Für Lehrer sind Hausaufgaben ein Spiegel, um zu sehen, ob die Kinder verstanden haben, was sie im Unterricht vermittelt haben. Wenn Eltern helfen, bekommt der Lehrer ein falsches Bild.

Sie haben Angst davor, dass ihr Kind die Schule nicht schafft.

Eltern denken kurzfristig richtig. Sie wollen nicht, dass ihr Kind sich blamiert. Aber beide Seiten sollten ehrlich miteinander umgehen. Wenn ein Kind sich nicht traut, diese Rückmeldung zu geben, könnten Eltern auch dem Lehrer einen Brief mitgeben, in dem sie erklären, ihr Kind konnte die Hausaufgaben nicht machen, weil es die Sache nicht verstanden hat. Hausaufgaben können als Brücke hilfreich sein. Auch die Eltern bekommen so mit, was in der Schule läuft. Für manche Lehrer sind Hausaufgaben auch eine Möglichkeit, Kinder stärker an der gemeinsamen Arbeit zu beteiligen: „Guck mal, ob ihr zu dem Thema selbst etwas findet.“ Wichtig ist generell, dass die Aufgabe aus dem Unterricht heraus erwächst. Wenn Aufgaben nur so hinten drangeklebt werden, bringen sie nichts.

Gibt es nicht auch gute Gründe für Eltern, ein positives Bild zu zeigen und die Blamage zu vermeiden? Schließlich droht am Gymnasium nach Klasse 6 die Abschulung auf die Stadtteilschule.

Das ist nachvollziehbar. Aber was gewinnt ein Kind, das Schwierigkeiten hat, und später nicht mitkommt, wenn die Eltern es nur irgendwie auf der höheren Schule halten? Dann spricht doch mehr dafür, dass es zur Stadtteilschule wechselt, wo es mit den Aufgaben selbstständig klar kommt.

Ist diese Struktur nicht eine Falle für Eltern?

Ja, entweder es gibt das begehrte Papier am Ende, aber dafür leidet das Kind über Jahre hinweg. Oder das Kind hat eine gute Schulzeit und am Ende ein Zertifikat, dass auf dem Arbeitsmarkt einen geringeren Wert hat. Wobei die Stadtteilschule ja ein Baukasten-System bietet, in dem es auch möglich ist, einen höheren Abschluss zu machen.

Fördern Hausaufgaben soziale Ungerechtigkeit?

Ja. Eltern, die selbst Abitur haben, können ihren Kindern meist besser helfen als Eltern mit Hauptschulabschluss. Die einen haben Bücher und einen ruhigen Schreibtisch zu Hause, die anderen nicht.

Wurde deshalb nicht die Ganztagsschule eingeführt? Und sollte die nicht die Hausaufgaben überflüssig machen?

Sie haben recht. Eine der Kernideen der Ganztagsschule ist, allen Kindern den gleichen Raum zum Lernen zu schaffen. Die Realität sieht anders aus, denn es gibt zwei Formen der Ganztagsschule. Die eine ist bloß eine verlängerte Halbtagsschule. Da lernen die Kinder auch nachmittags nicht, selbstständig zu arbeiten. Oder es ist eine halbe Ganztagsschule, in der der Nachmittag mit dem Vormittag nichts zu tun hat. Die Kinder haben eine Hausaufgabenzeit, während der sie aber keine qualifizierte Hilfe bekommen.

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Hans Brügelmann, bis 2012 Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Siegen, ist Mitautor des „Faktencheck Grundschule“, eines Überblicks über Forschungsbefunde zu pädagogischen Streitfragen.

Wie müsste Ganztagsschule ohne Hausaufgaben gestaltet sein?

Das selbstorganisierte Lernen muss den Schulalltag insgesamt bestimmen. Im Unterricht müssten stärker Phasen von Freiarbeit enthalten sein. Die Schulen sind oft reine Belehrungsanstalten, da lernt man nicht, selbstständig zu arbeiten. Ich wünsche mir eine andere Didaktik. Dass die Kinder täglich zwei Stunden für Freiarbeit haben und sich mit Hilfe eines Wochenplans entscheiden: Mache ich erst mal die schwierige Mathe-Aufgabe oder fange ich mit einer Rechtschreibübung ab. Wir brauchen andere Formen des Unterrichts wie zum Beispiel in der Max-Brauer-Schule hier in Hamburg. Da lernen die Schüler tagtäglich, sich selbst zu organisieren.

Müsste es nicht heißen, nach 16 Uhr ist richtig schulfrei, keine Hausaufgaben!

Ja. Wenn wir uns überlegen, dass Kinder sonst einen längeren Arbeitstag haben als erwachsene Arbeitnehmer, müsste es so sein. Wobei bestimmte Erkundungsaufgaben wie zum Beispiel „Interview mal deine Nachbarn zu dem und dem“ noch möglich sein müssten.

Leider gibt es keine Kindergewerkschaft.

Stimmt. Ich höre von Halbtagsschulen, wo die Kinder nach der Schule noch zwei bis drei Stunden an Aufgaben arbeiten, und von Ganztagsschulen, wo es immer noch ein bis zwei Stunden sind. Wenn Hamburgs Schulsenator sagt, es sollten täglich für Grundschüler nur 20 Minuten und für ältere 30 Minuten sein, ist das eher ein Hausaufgaben-Sparprogramm. Wobei aber das eine Kind für eine Aufgabe vielleicht nur fünf Minuten braucht und ein anderes 40 Minuten, also die achtfache Zeit.

Tatsächlich?

Ja, es kommt wie immer auf das einzelne Kind an. Das ist das Dilemma von Politik. Gleiche Zeiten sind nur sinnvoll, wenn die Kinder unterschiedliche Aufgaben bekommen. Oder es mehr Zeit in der Schule gibt. Dafür müssten wir aber anständig ausgestattete Ganztagsschulen schaffen.