„Kommt, sie schlagen nicht mehr“

VON WOLFGANG TEMPLIN

Das offizielle Polen befindet sich seit Wochen im Solidarność-Fieber. Der bevorstehende 25. Jahrestag der Unterzeichnung des Danziger Abkommens am 31. August und damit die Geburtsstunde der Gewerkschaft wird in Gdańsk, Warschau und vielen anderen polnischen Städten mit großem Aufwand begangen. Mehrere Organisationskomitees konkurrieren um die begehrtesten nationalen und internationalen Gäste. Lech Wałęsa, die zwar beschädigte, aber quicklebendige Ikone der Revolution, der polnische Präsident Aleksander Kwaśniewski, Tschechiens Ex-Staatspräsident Václav Havel, EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso und zahlreiche andere Prominente sind in diesen Tagen im Shuttle zwischen den verschiedenen Höhepunkten des Geschehens unterwegs.

Obwohl auch zahlreiche Gedenk- und Würdigungsveranstaltungen für die Streikenden von damals stattfinden, stehen viele Geburtshelfer von 1980 dieser Welle von Feiern mit gemischten Gefühlen gegenüber. Ein Teil protestiert offen dagegen. Sie sind der Ansicht, dass ihre damaligen sozialen Forderungen noch immer nicht eingelöst wurden, fühlen sich im Stich gelassen und verraten. Bekannte Personen, die zu den Mitbegründern der Solidarnosc zählten – wie Andrzej Gwiazda und Anna Walentynowitsch – tragen den Protest.

„Boykottiert die Gedenkfeiern“

Sie richteten einen offenen Brief an die Abgeordneten des Europäischen Parlaments, riefen zum Boykott der offiziellen Feierlichkeiten auf und laden zu alternativen Veranstaltungen ein. Im Zentrum der Kritik stehen die hohe Arbeitslosigkeit und die Auswirkungen der liberalen Wirtschaftspolitik auf den schwächeren Teil der polnischen Gesellschaft.

Problematisch ist die häufige Vermengung der Kritik mit populistischen und antieuropäischen Tönen. „Radio Maria“ und rechtsklerikale Kreise kochen mit den derzeitigen Arbeiterprotesten ihr eigenes Süppchen. Dazu kommt, dass die bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen die Stimmung weiter anheizen und die Gefahr einer politischen Instrumentalisierung des Jubiläums verschärfen.

Den zahlreichen geladenen Gästen aus Deutschland wird die Entschlüsselung der polnischen Gemengelage nicht leicht fallen. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat zum Solidarność-Jubiläum eine eigene Studienreise organisiert. Sie soll den deutschen Teilnehmern die Möglichkeit bieten, sich mit den Schauplätzen des Geschehens sowie damaligen und heutigen Akteuren und Positionen vertraut zu machen.

Die Auseinandersetzungen über die Bedeutung der Solidarność für Polen, den legitimen oder abzulehnenden Kompromisscharakter des polnischen Runden Tisches – das alles bildet die eine Seite der aktuellen Diskussion. Sie wird von einer neu aufgeflammten Debatte über die internationale Bedeutung der Gewerkschaftsbewegung begleitet. Mit den für Deutschland klassischen Fragen, ob es hier wirklich um eine Revolution ging und wie der Einsatz der Solidarność und die Leistung von KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow denn nun zueinander stünden, kommt man schnell zu der Frage nach der unterschiedlichen Rolle, die die Solidarność für die Bundesrepublik und die DDR spielte.

Hier ist die Gefahr eines Schwarzweiß-Bildes besonders groß. Die latente antipolnische Stimmungsmache in den DDR-Medien, die mit dem Entstehen der Solidarność in eine massive Hetzkampagne umschlug, verfehlte ihre Wirkung nicht. Der normale DDR-Bürger, froh über seine relative Konsumsicherheit, äugte ohnehin misstrauisch ins Nachbarland. Er war nur zu bereit, den Alltagsstereotypen vom arbeitsscheuen Polen, welcher die DDR-Läden leer kauft, ein weiteres progadandistisches Etikett hinzuzufügen: das des westlichen Agenten, der die Gewerkschaft unterwandert habe. Im Ergebnis entstand eine Haltung, die das vorläufige Ende der Solidarność bei der Verhängung des Kriegsrechts im Dezember 1981 mit der Reaktion kommentierte: „Selber dran schuld, nun haben sie sich zu Tode gestreikt, permanent provoziert und uns auch noch mit in Gefahr gebracht.“

Diese Darstellung der Reaktionen in der DDR auf Solidarność stimmt, ist aber dennoch nicht die ganze Wahrheit. So gab es zum einen jene Hand voll späterer DDR-Oppositioneller, die damals schon Polenkontakte hatten, nun ihre Informationen über Entstehen und Arbeit der Solidarność ungefiltert im Land verbreiteten und dabei Sympathiewerbung für den polnischen Weg machten. Darüber hinaus aber existierte eine große Menge unangepasster DDR-Bürger, die sich ihr eigenes Bild über die Situation in Polen zu machen suchte.

Was hier außerdem zählt, ist die lang anhaltende Wirkung von Ereignissen und Erfahrungen. Zahlreiche DDR-Bürger, die sich zunächst in ihrer Feigheit und Passivität bestätigt sahen, rieben sich die Augen, als die Solidarność auch unter dem Kriegsrecht nicht unterging und dem Jaruzelski-Regime ein Zugeständnis nach dem anderen abtrotzte. Die Bilder der polnischen Demonstrationen, mit den hochgerüsteten Sicherheitseinheiten am Straßenrand und den Rufen der Demonstranten an die Abseitsstehenden: „Kommt mit uns, sie schlagen schon nicht mehr“, brannten sich ein. Sie werden so manchen Leipziger Demonstranten der Jahre 1988 und 1989 begleitet haben.

„Frieden ist wichtiger als Polen“

Auf der anderen Seite waren die offiziellen Reaktionen der Bundesrepublik auf die Solidarność alles andere als solidarisch. Sie wurde parteiübergreifend als friedensgefährdender Unruhestifter im internationalen Entspannungsprozess betrachtet. Der blamablen Reaktion Helmut Schmidts, der beim Besuch Erich Honeckers von der Verhängung des Kriegsrechts überrascht wurde und bei einer gemeinsamen Pressekonferenz den Eindruck vermittelte, Polen sei mit Solidarność ins Chaos verfallen, folgten nicht weniger blamable Auftritte von Hans-Dietrich Genscher, Herbert Wehner und Egon Bahr. Letzterer überschrieb einen Artikel im SPD-Parteiorgan Vorwärts mit dem Titel: „Der Friede ist wichtiger als Polen!“

Es blieb den Außenseitern in den Parteien, einer Hand voll bundesdeutscher Gewerkschafter, einer Minderheit der Grünen, Ex-Maoisten um Christian Semler und Trotzkisten wie Winfried Wolf vorbehalten, die historische Bedeutung der Solidarność rechtzeitig genug zu erkennen und für ihre politische Unterstützung einzutreten.

Die nur kurz zuvor gegründete taz spielte für die Berichterstattung über die erste Phase der Solidarność-Entwicklung eine ausgesprochen positive Rolle. Sie hatte Korrespondenten vor Ort, und dank des „Pressedienstes“, den Jürgen Fuchs und später Roland Jahn, die beiden aus Jena stammenden Mitglieder der Friedens- und Demokratiebewegung, in Westberlin für ihre Freunde in der DDR organisierten, hatten wir regelmäßig die aktuellen Berichte und Kommentare in der Hand.

Später schafften wir es sogar, den damaligen taz-Korrespondenten Thomas Voß, der unter dem Pseudonym LUWA schrieb, nach Ostberlin zu holen. In konspirativ organisierten Wohnungsveranstaltungen trat er mehrfach auf. Da kein Polenengagierter aus den Ostberliner Gruppen zu dieser Zeit auch nur einen Fuß über eine der östlichen Grenzen setzen durfte, zählte diese Hilfe umso mehr.

Der frühe Kontakt zu Polen und die Verbindung zu Oppositionellen in den anderen osteuropäischen Ländern ließen für einen Teil von uns die Bedeutung der Solidarność sehr schnell sichtbar werden. Es war eine Revolution, die sich hier anbahnte, beginnend mit den landesweiten Streiks und spätestens dann, als sich Solidarność binnen weniger Wochen zur millionenfachen Bewegung formierte. Eine Revolution, deren Akteure – egal ob sie nun Arbeiter, Techniker oder Intellektuelle waren – aus den Erfahrungen der vorangegangenen Niederlagen gelernt hatten. Sie stellten das System der kommunistischen Nomenklatura grundsätzlich in Frage, beharrten aber auf dem gewaltlosen Charakter ihrer Bewegung, waren zur Selbstbegrenzung und zum Kompromiss fähig. Der britische Historiker Timothy Garton Ash, der die entscheidenden Tage auf der Leninwerft als Chronist verfolgte, spricht hier zu Recht von einer neuartigen, einer evolutionären Revolution.

An einem anderen entscheidenden Punkt, der die deutsche Diskussion über Solidarność und die Wende von 1989 bis heute bestimmt, zählten diese Erfahrungen ebenfalls. Der ja nicht nur für die DDR, sondern auch für die Bundesrepublik typische Gorbi-Manie konnten viele Solidarność-Akivisten nicht mehr verfallen. Gorbatschows Leistungen verschwinden nicht, wenn man Solidarność die wirklich entscheidende Vorreiterrolle für die friedlichen Revolutionen des Jahres 1989 zuspricht.

Man kann Michail Gorbatschow nicht für alle Entwicklungen des sowjetischen Imperiums verantwortlich machen – aber wenn ein russischer Bürgerrechtler wie Sergej Kowaljow heute betont, wie sehr er Polen und die Solidarność nicht nur bewundert, sondern eben auch beneidet, spricht das für sich. In Polen kam die Revolution von unten, in der Sowjetunion von oben.