Not im Norden

Ein jahrzehntelanger Trend hält an. Im ersten Halbjahr 2018 wuchs die Bevölkerung in Schweden um rund 50.000 Menschen. Doch das Wachstum konzentriert sich auf die Großstadtregionen im Süden. In Nordschweden, „Norrland“ genannt, das geografisch 58 Prozent der Fläche des Landes umfasst, leben nur noch 12 Prozent der Gesamtbevölkerung. Tendenz: abnehmend. Sollefteå ist mit einem Minus von rund einem Viertel der Einwohnerzahl innerhalb der letzten 40 Jahre ein typisches Beispiel.

Die Politik weiß auf diese Entwicklung bislang nur eine Antwort: Schrumpft die Bevölkerung, dann wird die öffentliche Infrastruktur zurückgefahren. Und wenn die örtliche Schule geschlossen wurde und der Weg zum nächsten Krankenhaus immer weiter wird, beschleunigt sich der Abwanderungsprozess. Vor allem die älteren Menschen bleiben zurück.

„Aufgabe der Politik war ja traditionell, strukturelle Ungleichgewichte durch Umverteilung auszugleichen“, sagt Po Tidholm, Verfasser mehrerer Bücher über Nordschweden: „Die heutige Politik macht genau das Gegenteil. Statt die Zentralisierungstendenzen zu bremsen, heizt man sie sogar noch an.“

Dabei ist es sein nördlicher Landesteil, der Schweden in Gang hält: 90 Prozent des in Europa gewonnen Eisenerzes kommen ebenso von hier wie das Holz für die Papierindustrie. Die Elektrizität aus Wasser- und Windkraft versorgt das ganze Land. Vor Ort bleibt aber weder etwas von den Gewinnen hängen, die die in diesen Branchen aktiven Konzerne machen, noch von den Steuern, die sie zahlen. Die wandern nach Stockholm und nur ein Bruchteil fließt zurück in den Norden.

Linke und Grüne fordern deshalb eine Naturressourcensteuer, wie es sie ähnlich in Norwegen gibt. Sie würde der Region zugutekommen, in der die Naturschätze ausgebeutet werden. Beispiel Sollefteå: Hier wird die zweitgrößte Menge an Wasserkraftelektrizität in ganz Schweden produziert – insgesamt jede zwölfte Kilowattstunde, die im Lande verbraucht wird.

Bisher fehlt der politische Wille zu Veränderungen. Die Menschen in Nordschweden fühlen sich immer mehr abgehängt. Sie begegnen einem Staat, der nicht einmal mehr den Anschein zu wahren versucht, Verantwortung für das ganze Land tragen zu wollen. Die rechtspopulistischen Schwedendemokraten fassen in diesem traditionell „roten“ Landesteil zunehmend Fuß, obwohl sie kein realistisches Rezept für Norrland präsentieren können.

Optimisten wollen die Hoffnung auf eine Trendwende nicht aufgeben. In den 1970er Jahren gab es schon einmal eine solche Umkehr. Das Leben auf dem Land wurde damals populär, die Städte im Süden verloren dagegen fast 200.000 EinwohnerInnen. „Wenn es sich wendet, muss es aber noch etwas geben, wohin man sich wenden kann“, meint Po Tidholm: Auch deshalb müssten die Menschen hier für den Erhalt der verbliebenen Reste an Infrastruktur „bis zum letzten Blutstropfen kämpfen“.

Reinhard Wolff