Warum Ratten sterben müssen

Wuchtige Totenmesse, filigrane Kammeroper und jede Menge Stockhausen: Auf der Zielgeraden erkundet das Musikfest Berlin verstärkt die Moderne des 20. Jahrhunderts

Alle sehr konzentriert: George Benjamin, Susanna Andersson, Kristina Szabó und Musiker des Mahler Chamber Orchestra Foto: Adam Janisch

Von Tim Caspar Boehme

Requiem heißt ja eigentlich Ruhe. In der Musik wird das allerdings selten berücksichtigt, wenn Totenmessen vertont werden. Spätestens beim „Dies Irae“ im Messetext, dem Tag des Zorns, gibt es in der Regel reichlich Aufruhr bei den Sängern und, sofern vorhanden, dem Orchester.

Von beidem bietet Antonín Dvořáks Requiem reichlich, ein großer Chor trifft auf ein noch größeres Orchester. Ein massives Stück, abendfüllendes Programm.

Mit diesem Werk hatte sich der belgische Dirigent Philippe Herreweghe am Dienstag samt seinem Chor, dem Collegium Vocale Gent, in die Philharmonie begeben, um seinen Beitrag zum Musikfest zu liefern, unterstützt vom Konzerthausorchester. Herreweghe, der berühmt wurde mit feinsinnigen Interpretationen des Barock- und Renaissancerepertoires, allen voran Bach, hat diesmal eine für seine Vorlieben ungewöhnliche Musik dargeboten.

Dvořáks 1890 vollendete Komposition macht es einem in ihrer üppigen Klanggestaltung nicht unbedingt leicht. Von massiven homophonen Chorblöcken, teils folkloristisch eingefärbt, über dissonant wogende Streicher bis zu heftig verschachtelter Mehrstimmigkeit reicht sein Angebot. Manchmal schlägt die sehr bewegliche romantische Harmonik ins ungeschützt Emotionale um. Das ist nicht für jeden etwas.

Und doch ist dieses Requiem nicht nur ein Stück, das zu singen große Freude bereitet, sondern das auch beim Hören durchaus befriedigen kann. Mit seinem eingangs vorgestellten Leitmotiv, einem Grundton, der von zwei Halbtonschritten umspielt wird, gibt es eine in allen Instrumentengruppen immer wieder auftauchende Figur, wie eine insistierende Suche nach dieser ewigen Ruhe, die zu Lebzeiten eine Utopie bleiben muss und von der man nicht weiß, wie sie sich hinterher gestaltet.

Herreweghe ließ seinen vorzüglichen Chor diese Suchbewegung innig nachvollziehen, mit kurz auftauchenden Momenten des Strahlens in hellem Dur. Das Zusammenspiel mit dem Konzerthausorchester gelang gleichfalls, ungeachtet Herreweghes seltsam hektisch rudernden Bewegungen.

Wesentlich minimalistischer gab dagegen der britische Komponist und Dirigent Sir George Benjamin tags drauf dem Mahler Chamber Orchestra die Spielanweisungen für seine eigene Kammeroper „Into the Little Hill“ von 2006, eines der wenigen Werke beim Musikfest aus dem 21. Jahrhundert. Zwei Gesangsstimmen tragen diese „lyrische Erzählung“ vor, hier von der Sopranistin Susanna Andersson und der Altistin Kristina Szabó interpretiert.

Besonders die Sopranpartie enthält einige unmenschliche Sprünge aus höchster Höhe in dieser allegorischen Erzählung, bei der im Dialog der zwei Stimmen das Für und Wider von Ratten ein wiederkehrendes Motiv ist. Das übersichtlich besetzte Kammerorchester, in dem auch Mandoline, Banjo und Hackbrett zum Einsatz kommen, spielt dazu musikalische Punkt­ereignisse, die Klänge wandern durch die verschiedenen Instrumentengruppen, probieren immer neue Reibungen und flüchtige Bewegungen, selten sind alle Musiker gleichzeitig zu hören.

Samstag geht es im Großen Sendesaal des RBB weiter mit Stockhausen

Spitz und schrill dazu mitunter der Gesang, doch so klug gesetzt, so abwechslungsreich die Begleitung, dass man die rund 40 Minuten gebannt durchlebt, selbst wenn man rein über die Ohren nicht jedes Wort versteht, das da gewechselt wird. Verdienter jubelnder Applaus.

Noch jubilatorischer die Publikumsreaktionen am Donnerstag zum Auftakt des Schwerpunkts, der sich dem Nachkriegstitanen Karlheinz Stockhausen widmet. Eine große Schule des Hörens bot der Pianist Pierre-Laurent Aimard mit den Klavierstücken 1 bis 11 des Komponisten aus den fünfziger Jahren. Angefangen mit den knappen frühen Stücken in ihrer wie von einer scheinbar willkürlichen Mechanik bestimmten Strenge, vereinzelte Klänge, die wenig Greifbares bieten, ging Aimard moderat chronologisch über zu den unberechenbaren „mittleren“ Stücken des Programms mit zunehmend expressiven Momenten, lyrischen gar.

Die heftigsten Werke sparte er sich für die zweite Hälfte des Abends. Dem aus aleatorisch aneinandergefügten atomisierten Teilen bestehenden Klavierstück 11 folgte das um einen beharrlich wiederholten dissonanten Akkord gebaute grandiose Klavierstück 9, das sich gegen Ende hin immer zartere Passagen gestattet. Furioser Beschluss dann die kraftstrotzende Nummer 10, für die Aimard – fingerlose – Handschuhe überzog, um die mit Faust und Arm gehämmerten Cluster und die flirrenden Glissandi verletzungsfrei zu bestehen. Elektrisierend und famos! Großer Dank dafür, dass Aimard trotz klingelnder Mobiltelefone den Abend nicht abgebrochen hat.

Samstag geht es im Großen Sendesaal des RBB weiter mit dem Stockhausen-Schwerpunkt, wieder unter Beteiligung Aimards, mit den kammermusikalischen Werken „Zyklus“, „Refrain“ und „Kontakte“, Letzteres für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug. Am Montag spielt Aimard zusammen mit Tamara Stefanovich „Mantra“ für zwei Klaviere, deren Klang durch Ringmodulatoren bearbeitet wird. Und Dienstag dirigiert Peter Ruzicka zum Abschluss Stockhausens „­Inori“, von zwei Tänzerinnen begleitete „Anbetungen“, gespielt vom Orchester der Lucerne Festival Academy. Die Welt braucht mehr Stockhausen.

Noch bis 18. September, www.berlinerfestpiele.de