Milo Rau am Nationaltheater in Gent: „Klassiker verboten!“

Regisseur Rau schlug eine Intendanz am Züricher Schauspielhaus aus und geht nach Belgien. Ein Gespräch über Homophobie und die Banalität des Bösen.

Milo Rau (l.) mit dem Kunst­studenten Bilal Alnouri und einem Schaf vor einer Reproduktion des Genter Altars

Milo Rau (l.) mit dem Kunst­studenten Bilal Alnouri vor einer Reproduktion des Genter Altars Foto: Michiel Devijver

Café Einstein im Berliner Hauptbahnhof. Am Vorabend hat die Berliner Schaubühne die Spielzeit mit Milo Raus „Die Wiederholung“ eröffnet. Es ist Sonntag, 8.45 Uhr. Rau hat wenig geschlafen. Um 9.45 Uhr geht sein Zug.

taz am wochenende: Herr Rau, Sie haben sich gegen eine Intendanz als künstlerischer Direktor am Schauspielhaus Zürich und für eine am belgischen Nationaltheater in Gent entschieden, warum?

Milo Rau: Flandern hat ein sehr viel offeneres Theatersystem als die Schweiz oder Deutschland. Bei uns regiert das Stadttheaterprinzip: feste Ensembles plus Repertoire. Der Technikapparat ist wegen der sehr eng getakteten Arbeitspläne oft unfähig, auf neue Ansätze zu reagieren. Touring ist unmöglich.

Und das ist im belgischen Gent anders?

Es ist nicht alles perfekt, aber freie Szene und Stadttheater gehören hier zusammen. Unser Ensemble besteht aus Profis, Laien, Tänzern, aus Menschen vieler verschiedener Milieus und Länder. Wir vereinbaren Einzelverträge zu einem oder mehreren Stücken, und die spielen wir international: eine Staffel Aufführungen vor Ort, dann touren wir. Die Schauspieler sind nicht in zehn verschiedene Aufführungen über den Monat verstreut eingebunden. Das schafft Freiheiten bei der Programmierung, aber auch eine andere Identifikation mit den Stücken. Der Schauspieler ist in Flandern ein Künstler, der mitdenkt. Der Ballast der Vergangenheit ist viel geringer. Den Theater-Kanon Flanderns kannst du an einem Nachmittag lesen. Da musst du dir deine Klassiker selbst schreiben.

Sie, und dazu noch als Schweizer, hatten wirklich keine Lust, das pompös ausgestattete Zürcher Schauspielhaus zu übernehmen?

Milo Rau, geb. 1977 in Bern, ist einer der produktivsten europäischen Theaterregisseure. Der „Milo­meter“ sei so etwas wie der „Goldstandard der Postdramatik“, so eine Tageszeitung. Rau hat zwei Kinder, lebt in Zürich, Köln und Gent. Dort beginnt am Nationaltheater die erste Spielzeit unter seiner Leitung am 29. 9. www.ntgent.be

Es war keine leichte Entscheidung, Zürich ist ja meine Heimat. Aber die Vorstellung, dort den zweiten Marthaler oder Schlingensief zu geben und den übersättigten Kleinbürgern zum Fraß vorgeworfen zu werden, fand ich nicht sehr verlockend. (Lacht) Es ist zu früh, dass meine ausgeweideten Knochen den Zürichsee hinunterschwimmen. In zehn Jahren dann.

Was ist denn die Verkehrssprache im Theater in Gent, Englisch?

Die meisten sprechen Flämisch mit mir. Ich versteh’s, kann aber nur radebrechend antworten. Ich greife meistens aufs Englische, Deutsche oder Französische zurück.

Für „Five Easy Pieces“, Ihre Inszenierung zum Fall des Mörders und Sexualstrafttäters Dutroux, wurden Sie international gefeiert. Nun, aktuell in „Die Wiederholung“, geht es um den Mord an dem Homosexuellen Ihsane Jarfi in Lüttich 2012. Was verbindet die beiden Kriminalstücke?

Beides sind Theater-Essays. Bei „Five Easy Pieces“ ging es konkret um die Beziehung von Regie und Schauspiel: Wo hört das Spiel auf, wo beginnt der Missbrauch? Alles vor dem Hintergrund des Themas Pädophilie. In „Die Wiederholung“ geht es um die Darstellbarkeit von Gewalt – und um die Beziehung von Laien und professionellen Darstellern.

Sie zitieren in „Die Wiederholung“ den Hannah-Arendt-Satz von der „Banalität des Bösen“, warum?

Es geht um die banale Zufälligkeit, die einen zum Opfer oder eben zum Täter macht. Die also sehr wörtliche „Banalität“ des Bösen war auch das Thema von „Five Easy Pieces“. Sie bilden zusammen mit meiner Pasolini-Adaption „Die 120 Tage von Sodom“ eine Trilogie zur Frage der Darstellung von Gewalt auf der Bühne. Auch bei „Hate Radio“, einem Stück, in dem es um den Völkermord in Ruanda ging, haben mich diese Grenzbereiche interessiert: Wie kann ein völlig gewöhnlicher Mensch sich in einen bestialischen Mörder verwandeln? Warum bringen drei Leute ohne Grund einen ihnen unbekannten Homosexuellen in Lüttich um?

Der Fall Dutroux erschütterte die gesamte belgische Gesellschaft. Wie kamen Sie auf den Mordfall Ihsane Jarfi?

Sébastien Foucault, einer der Schauspieler, hat das Verfahren gegen die Mörder mitverfolgt. Eigentlich wollten wir ein anderes Stück machen, über sein Kind, das direkt nach der Geburt gestorben ist. Wir haben lange darüber gesprochen und uns am Ende für die Geschichte aus Lüttich entschieden. In der „Wiederholung“ gibt es eine für uns sehr wichtige Szene, in der die Eltern von Jarfi auf eine Nachricht ihres Sohnes warten – der aber bereits tot ist.

Wie haben Sie und Ihr Team recherchiert?

Zufällig hat einer der Anwälte, der auch im „Kongo Tribunal“ auftritt, Jean-Louis Gilissen, einen der Täter verteidigt. Und dann waren wir eng mit vielen der Protagonisten in Kontakt: den Eltern von Jarfi, seinem Ex-Freund. Einen der Täter haben wir im Gefängnis getroffen, auf seiner Aussage beruht die Darstellung des Mordes in der Autoszene. Beim Casting der Laiendarsteller haben wir viel über die Region erfahren, über das Trauma von Lüttich und den industriellen Niedergang der Region.

Was will uns der Titel „Die Wiederholung“ sagen?

Es geht um eine „Wieder-Holung“ im existenziellen Sinn, mein Stücktitel ist ja ein Buchtitel des dänischen Philosophen Kierkegaard. Man wiederholt, man durchquert etwas, um es zu verstehen. Deshalb war mir die totale Sinnlosigkeit des Falls so wichtig: dass eben keine leichte Begründung – wie eine private Hassgeschichte – zugänglich ist.

Sie lassen den Mord auf der Bühne darstellen, aber es findet sich kaum eine rationalisierbare Deutung für diesen. Warum nicht?

Im Grunde passiert die ganze „Wiederholung“ in dieser Szene mit dem Auto. Einer der Täter sitzt zwanzig Minuten auf dem Beifahrersitz und tut gar nichts. Als ich ihn im Gefängnis traf, sagte er: „Ich hätte bei meiner Freundin bleiben und nicht betrunken noch einmal losziehen sollen.“ Mehr fällt ihm dazu nicht ein. Komplett banal. In den belgischen Medien wurde ein „Hate Crime“ daraus gemacht, sogar die Gesetze wurden geändert: Wenn heute jemand aus Hass-Motiven mordet, lautet die Anklage automatisch auf „lebenslänglich“, und das ist auch richtig so. Doch die Täter von Lüttich waren so homophob wie die halbe belgische Gesellschaft, wenn sie unter Alkoholeinfluss steht. Das ist die Dimension von „Banalität“, die mich interessiert – nicht die Monströsität des Einzelnen.

„Es geht nicht mehr nur darum, die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern. Nicht die Darstellung des Realen ist das Ziel, sondern dass die Darstellung selbst real wird“, heißt es in Ihrem Genter Manifest, welches Sie der Spielzeiteröffnung in Gent vorausschicken. Klingt – nach gefühlt tausend Naturalismus- und Realismusstreiten in der Kunst – 2018 nach einer Selbstverständlichkeit?

Ihr Wort in Gottes und Intendantenohr. (Lacht) Mir geht es darum, unsere Bühnen wieder für theaterferne Geschichten und Protagonisten zu öffnen. Stadttheater heißt doch nach wie vor, artistische Spielchen mit Klassikervorlagen zu treiben. In Gent haben wir gesagt: Schluss mit den ewig gleichen Instant-Adaptionen, jetzt wird das Ensemble geöffnet! Jetzt wird das Nachspielen von Klassikern einfach mal verboten! Das NTGent ist ja das Traditionshaus Flanderns, seit Monaten gibt es hitzige Debatten, das ging bis ins Parlament. Wohin das führt, werden wir sehen.

Wie ist das, wenn Sie auch mit Laiendarstellern arbeiten, die keine klassische Schauspielausbildung haben. Werden die so zu Profis quasi auf dem zweiten Bildungsweg? Oder sind es Originale aus dem Volk, Stars für eine Nacht, die dann wieder verschwinden, obwohl sie großartig gespielt haben?

Ob Laie oder Profi, ich arbeite nur mit Leuten zusammen, die etwas zu sagen haben. In der „Wiederholung“ stehen Schauspielstars mit Laien auf der Bühne. Aber ob nun erster oder gar kein Bildungsweg: Sie sind dabei, weil sie hervorragende Darsteller sind. Das sind natürlich sehr lange Auswahlprozesse, man muss Zeit haben und offen sein. Ich habe nicht gesagt: Ich brauche für „Die Wiederholung“ einen Gabelstaplerfahrer. Sondern ich habe nach Personen gesucht, die eine Präsenz auf der Bühne haben. Und zufällig bin ich dann auf diesen arbeitslosen Maurer und Gabelstaplerfahrer getroffen.

„Drittens. Die Autorschaft liegt vollumfänglich bei den an den Proben und der Vorstellung Beteiligten, was auch immer ihre Funktion sein mag – und bei niemandem sonst.“ Klingt Regel Nummer drei Ihres Manifests nicht auch ein wenig nach Selbstbetrug des Autors Milo Rau angesichts der Inszenierungspraxis?

Es steht natürlich der Wunsch dahinter, dass alle mitdenken, von Anfang an. Dass nicht einfach ein paar Profis Texte und Konzepte adaptieren, die sich andere ausgedacht haben. Warum soll man dann zusammenarbeiten? Was ist dann der Sinn eines Begriffs wie „Ensemble“? Unser Manifest will mit der ewigen Rede von einem „demokratischen Theater“ Ernst machen. Ein globaler Ansatz kann ja nur dann wahrhaftig sein, wenn er sich aus vielen Perspektiven zusammensetzt.

Aber der Regisseur sind Sie schon noch?

Ja, klar. Aber spielen tun nun mal die Schauspieler, beleuchten tun die Lichtdesigner, die Bilder macht ein Kameramann. Und so weiter. Theater ist eine kollektive Kunstform.

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