DJ-Party im Totenreich

Am Thalia-Theater bringt Antú Romero Nunes den Orpheus-Mythos auf die Bühne. Mehr als Pop-Konzert und Kindertheatermagie kommt da nicht raus

Bühnenzauber, Slapstick, Tanz und Musik: Nunes fährt viel auf – aber letztlich macht er aus dem Mythos nur eine kitschige Liebesgeschichte Foto: Armin Smailovic

Von Katrin Ullmann

Ausgerechnet Amor ist es, dem Orpheus versucht, die Liebe zu erklären: „Weißt Du, was eine Liebe ist? Weißt Du, wie es ist, wenn man sich immer beisteht, wenn man sich freut, und wenn man gemeinsam ein gutes Leben hat?“ Verzweifelt ist der mythische Dichter und Sänger, trauert um seine Geliebte Eurydike, beim Sprechen krächzt und kippt seine Stimme, kraftlos liegt er auf dem Bühnenboden. Ein Leben ohne Eurydike? Das kann er sich nicht vorstellen.

Eben noch hatte er wild gesungen, getanzt, gefeiert – und dabei gar nicht bemerkt, dass Eurydike mitten im Partytaumel zu Tode vergewaltigt wurde. Rasch wird ihr Leichnam weggezogen, mit einer riesigen Plane verdeckt. Die letzte Umarmung des legendären antiken Liebespaars – sie läuft ins Leere.

Zur Eröffnung der 175. Jubiläumsspielzeit des Hamburger Thalia-Theaters hat sich Hausregisseur Antú Romero Nunes dem Orpheus-Mythos genähert. Orpheus, dessen Gesang wilde Tiere und Götter gerührt, sogar Bäume und Steine erweicht und zum Tanzen verführt haben soll, ist ein tragischer Dauerbrenner, erzählt er doch vom ewigen Liebes-Trauer-Thema und von der Endlichkeit auf Erden.

Nunes nähert sich dem antiken Mythos musikalisch, tänzerisch und – wie meist in seinen Theaterarbeiten – reichlich assoziativ und mit mehr als genug Platz für allerlei Schauspieler*innenfantasien. Die Bühne ist leer, mal wird ein Klavier darauf geschoben – es geht ja um Musik –, mal eine Hebebühne. Und meist wabern Nebelschwaden hinüber – das Zwischen-, das Totenreich ist schließlich ein dunkler, mystischer Ort. Und hier eben ein verruchter Nachtklub, in dem Orpheus als gefeierter DJ den Ton angibt.

Amor sitzt an Orpheus’ Seite und hört dem Verzweifelten zu. Mit banalen Balkon-Weisheiten über die Endlichkeit des Lebens und der Liebe – „du wusstest doch, dass es nicht ewig geht“ –, mit ein paar überdimensionierten Erste-Hilfe-Spritzen und einer Handvoll kunterbunter Pillen versucht er, den jungen Mann wiederzubeleben. Es gelingt, denn letztlich treibt Orpheus ja die Liebe an und die ist bekanntlich unsterblich.

An diesem Abend ist Orpheus eine Frau: Die jungenhaft wirkende Lisa Hagmeister spielt den Liebenden, dessen Sangeskünste ihm später Zutritt zur Unterwelt verschaffen werden, aus der er Eurydike befreien will. Mit rauchiger Stimme haucht Hagmeister französische Endlosschleifen ins Mikrofon (und das kann sie sehr gut), macht dabei mit dem Höllenhund Kerberos ein paar lässige Apportierübungen, bevor sich dieser vor ihr als Testosteron-schwerer Zeus (Pascal Houdus) aufbaut und sie schließlich ins Totenreich hineinlässt.

Aus dem Jenseits will dieser weibliche Orpheus Eurydike mit ins Diesseits nehmen, doch auf dem Weg nach oben darf sie sich auf keinen Fall umdrehen – was sie tragischerweise natürlich tut. Also verschwindet Eurydike wieder im Hades – diesmal unwiderruflich.

Mit einem anderen antiken Stoff, einer „Odyssee“-Bearbeitung nach Homer, war Nunes zum diesjährigen Theatertreffen eingeladen: Eine kleine, feine Inszenierung ist das, die vor allem von der Spielfreude und der Improvisationslust der beiden Darsteller Thomas Niehaus und Paul Schröder lebt. Als Brüder mit bekifftem Kopf erzählen und spielen sie die Legenden ihres unnahbaren Heldenvaters Odysseus nach. Griechische Baderituale, postpubertäre Männerkonkurrenz und Schwanzvergleich inklusive. Pathetisch, albern, sinnlich und klug gelingt es Nunes darin, die große antike Tragödie ganz nah und irdisch zu erzählen.

Ein Vorhaben, das er in seiner „Orpheus“-Annäherung offensichtlich ebenfalls verfolgt – was ihm ebenso offensichtlich nicht gelingt. Zwar kommt auch Nunes’„Orpheus“ weitgehend ohne Text aus, baut vor allem im ersten Teil des gut eineinhalbstündigen Abends auf Slapstick, Tanz, Pantomime und Musik – von sanftem Pop über wilde Balkanbeats bis hin zu sphärischen Elektroklängen reichen die Kompositionen von Anna Bauer und Johannes Hofmann.

Nicht weniger als fünf Live-Musiker*innen sowie elf Tänzer*innen ergänzen das spielfreudige siebenköpfige Schauspielerensemble. Doch viel aufzufahren, hilft nicht notwendig auch viel. Zu substanzlos bleiben die Bezüge zum antiken Stoff, zu redundant die Tanzchoreografien, zu klischeehaft die meisten, durchaus wuchtigen Bilder, die Nunes erfindet. Und zu privat sind die Anekdoten, die die Schauspieler*innen wie Lockerungsübungen dann und wann in den Zuschauerraum werfen.

Manchmal hört man auch ernste Texte: Dann werden Passagen von Nietzsche über Cioran bis Schiller vorgetragen, mit feierlichem pathetischem Ernst. Aber auch das ohne schlüssigen Zusammenhang. Nunes packt den vielschichtigen Stoff nicht wirklich an, nimmt ihn nur als Vorlage für eine neu zu erzählende Liebesgeschichte, karikiert dazu ein paar Götter im grobschlächtigem Männlichkeitswahn und baut drumherum jede Menge Budenzauber.

Letztlich bleibt Nunes so mit seiner sich aufbäumenden, aufbauschenden Eröffnungspremiere irgendwo zwischen kitschig verklärtem Weihnachtsspektakel, softem Pop-Konzert und eher mittelmäßiger Kindertheatermagie.

Fr, 14. 9., 20 Uhr, Hamburg, Thalia-Theater; weitere Aufführungen: 19./28. 9., 5./14./29./30. 10.