Gestern, heute, morgen

Von der Zeitungslektüre am Bullerbü-Küchentisch bis zu den Ruinen wilhelminischer Kathedralen: Externe Blicke auf die taz im Medienwandel

Foto: André Wunstorf

„Versuchen Sie mal, in der U-Bahn Zeitung zu lesen“

taz am wochenende: Frau Mian, können Sie sich noch an Ihre erste taz erinnern?

Fatema Mian: Das war Anfang der 80er. Damals kam der Film „Mein wunderbarer Waschsalon“ in die Kinos, darin geht es um einen schwulen Pakistani in London. Der Film wurde schnell Kult, die taz hat ihn damals besprochen. Dieses Erspüren von Trends fand ich toll. Eine Zeitung braucht für mich eine Art Alleinstellungsmerkmal, damit ich sie lese.

Und die taz schafft das?

Meistens, aber nicht immer. Den Kulturteil finde ich heute unglaublich gediegen, ich ärgere mich oft darüber. Da ist nichts wirklich Neues, nichts Überraschendes mehr dabei.

Aber Sie haben nicht aufgehört, die taz zu lesen.

Doch. Über die Jahre wurde sie mir zu links, zu selbstgefällig. Nach der Wende, als es plötzlich sehr viele Zeitungen in Deutschland gab, habe ich die taz irgendwann einfach aus den Augen verloren.

Seit vergangenem Jahr lesen Sie die taz wieder regelmäßig – aber ausschließlich digital. Wie kommt’s?

Tatsächlich hat mich ihr Einsatz für Deniz Yücel der Zeitung wieder näher gebracht. Ich fand es toll, dass diese kleine Zeitung, die bekanntlich ja auch nicht so viel Geld hat, so für Yücel gekämpft hat. Da wollte ich solidarisch sein.

Warum machen Sie bei „taz zahl ich“ mit, obwohl es die taz im Netz umsonst gibt?

Wenn man einigermaßen Geld hat, ist das selbstverständlich. Man sollte Journalisten unterstützen, die etwas anbieten, das es sonst nicht gäbe. Ich mag es nicht, nur zu nehmen, da hätte ich ein schlechtes Gewissen.

Was halten Sie von den Überlegungen der taz, ab 2022 die werktägliche Ausgabe nur noch digital zu publizieren und lediglich zum Wochenende auf Papier zu erscheinen?

Es fühlt sich komisch an, weil man sich damit natürlich auch von etwas verabschiedet. Es ist ein mutiger Schritt, denn es gibt sicher noch viele alte taz-Leser, die sich von der Umstellung vielleicht abschrecken lassen.

Glauben Sie, dass die Printzeitung sterben wird?

Ja. Tageszeitungen wird es in Zukunft nur noch in digitaler Form geben. Und warum auch nicht. Mir geht es nicht nur um schöne Artikel, sondern auch darum, beim Lesen schnell etwas nachzuschlagen, das geht nur online. Mal ganz abgesehen davon, dass man weniger Papier produziert, ist das digitale Lesen praktischer. Versuchen Sie mal, in der U-Bahn Zeitung zu lesen! Das ist doch Quatsch.

Interview Cornelia Neumeyer

Fatema Mian arbeitet beim Bayerischen Rundfunk und ist Mitglied bei den Neuen Deutschen Medienmachern.

Sie liest alles, immer, auf Papier

Zweimal im Jahr fährt Ingrid Anna Gomolzig in den Urlaub. Vorher ruft sie in der Aboabteilung der taz an. Jedes Mal wird sie dann darauf angesprochen, was für eine niedrige Abonummer sie habe.

Seit 1981 hat Gomolzig die taz abonniert. Und für die Urlaubszeit spendet sie ihr Abo an einen Häftling. „Und was, wenn die taz werktags nicht mehr gedruckt erscheint? Das würde ja dann gar nicht mehr gehen, die in den Knast zu schicken“, sagt sie.

Tja. Hat sie wohl recht.

Gomolzig ist eine Leserin, wie sie sich jede Zeitung wünscht. Morgens, die taz wird bei ihr früh von einer Zustellerin gebracht, setzt sie sich an ihren Küchentisch, so ein vom Leben gezeichneter Echtholztisch, wie man ihn sich vorstellt, wenn man Astrid-Lindgren-Bücher liest, viel Licht scheint durch die Fenster. Der Efeu hängt vor der Scheibe, und der Birnenbaum trägt in diesem Jahr so viele dicke Früchte, dass es fast überheblich ist. Und dann liest sie. Und liest. Die gesamte taz. Nur wenn sie etwas überhaupt nicht interessiert, überblättert sie es. „Ich kann nicht Kaffee trinken dabei“, sagt sie, „der würde kalt.“

Eigentlich müssten zweifelnde taz-Angestellte zu Gomolzig in den Husumer Stadtteil Rödemis fahren und sich in ihrer Küche die vernarbte Seele streicheln lassen.

Ingrid Anna Gomolzig ist 82 Jahre alt. Sie ist nach dem Krieg in Hamburg aufgewachsen und ist 1976 nach Nordfriesland gezogen. Sie war bei den Grünen, als die Grünen noch alle blöd fanden; sie war für die Grüne Liste im Husumer Stadtrat, eine der ganz wenigen Frauen in dem Parlament; sie hat gegen alle Widerstände die Frauenberatungsstelle mitbegründet; sie bekam als Lehrerin keinen Parkplatz auf dem Schulgelände, weil sie einen „Atomkraft – Nein Danke“-Aufkleber auf dem Auto hatte.

Dann kam Tschernobyl – und ebenso wie die Akzeptanz der taz stieg auch die Akzeptanz ihrer politischen Arbeit.

Anfang der 90er-Jahre wurde Gomolzig Konrektorin an ihrer Grundschule. Der Direktor hätte gerne einen Mann als Stellvertreter gehabt – „trotz eines kompletten Frauenkollegiums“, sagt Gomolzig. Das wollte sie nicht, also bewarb sie sich. „Ich habe die Schule geliebt“, sagt sie, „Aber ich habe sie auch nicht vermisst seit ich im Ruhestand bin.“

Und immer blieb die taz. Gomolzig machte mehr Layoutreformen mit als die meisten taz-MitarbeiterInnen. Sie mag die harte Politik, sie mag es über Kolumnen ihren AutorInnen näher zu kommen, sie mag die Mischung, die ihr eine Tageszeitung bietet, „nicht nur gesammelt Schreckliches“, sie mag manche Kommentare nicht, „aber ich würde nie einen Brief schreiben und sagen ‚Hör mal zu, taz!‘ “, und ihr fehlt die taz, wenn sie nicht im Briefkasten liegt. So wie letzte Woche, als aus Versehen Die Welt geliefert wurde. Sie ist dann zum Bahnhof gegangen und hat sich eine taz gekauft. „An Tagen, an denen die taz nicht kommt, fühle ich mich informativ verloren“, sagt sie.

Finden Sie die taz eigentlich teuer? „Ja“, sagt Gomolzig, „aber angemessen, wie Einkaufen im Bioladen.“

Wann würden Sie kündigen? „Wenn die taz grundsätzlich gegen meine ökologischen und feministischen Grundsätze verstoßen würde.“

Und wenn sie nicht mehr gedruckt wird? Gomolzig spricht jetzt mit Nachdruck im Ton, wie es nur LehrerInnen können: „Ich will die gedruckte taz behalten.“ Jürn Kruse

Das Ende der klebrigen Kaiser

„Ich bin es aber so gewohnt!“ Die Wiederholung des Vertrauten ist das Beste, das wir haben. Und das Schrecklichste. Sie erleichtert mir das Leben. Und sie sperrt mich in einen selbstgemachten Käfig, im schlimmsten Fall lebenslang.

Das Lesen von Zeitungen auf Papier ist genau das: eine Gewohnheit. Und das soll jetzt vorbei sein?

Über den Medienwechsel zu reden ist ohnehin apokalyptisch: Um den Untergang geht es. Oder um die Erlösung, das ist oft nicht leicht auseinanderzuhalten. Sehr schön nachzulesen bei Victor Hugo 1831 in seinem Historienroman „Der Glöckner von Notre-Dame“. „Das hier“, verkündet darin der böse Priester und hebt ein gedrucktes Buch hoch, „wird das hier“ – und er weist auf die Kathedrale – „töten.“

Marshall McLuhan hat diese Szene in seiner „Gutenberg-Galaxis noch einmal maximal medienprognostisch aufgeschäumt: Fernsehen killt Print. Das war 1962. In diesem Jahr bin ich geboren. Gedruckte Zeitungen gelesen habe ich, seitdem ich dreizehn war. Die taz seit 1986. Den Fernseher habe ich 1992 abgeschafft.

Offenbar ist da irgendetwas dazwischengekommen.

Oder lag Michael Frayn richtig, mit seinem Science-Fiction-Roman „Tin Men“? Ein Superrechner kann autonom vollständige Zeitungen produzieren, unabhängig davon, was tatsächlich in der Außenwelt geschieht. Er wertet einfach laufend die Umfrageergebnisse aus, welche älteren Berichte beim Publikum den größten Erfolg gehabt haben, und variiert sie dann neu. Soll es jeden Monat einen Flugzeugabsturz geben oder öfter? Soll das Opfer im täglichen Mordfall ein kleines Mädchen oder eine alte Dame sein?

Klingt wie die Onlineausgabe mancher Nachrichtenmagazine. Bloß ist der Roman 1965 erschienen. Und bei Frayn werden die Zeitungen auf Papier gedruckt.

Denn Papier war der medientechnische Sprit für die Kathe­dralen der Moderne: Als der Berliner Dom, die größte Kirche Berlins, 1905 eröffnet wurde, erschienen in Deutschland mehr als 10.000 Zeitungen, mit einer Jahresgesamtauflage von fast 5 Milliarden Exemplaren. Wahrheits- und wirklichkeitshaltiger war das im Vergleich zu heute aber auch nicht. Es war auch die Zeit des bizarren Medienkaisers Wilhelm II., und der großen nationalistischen Wahnmaschinen, die auf ihn gefolgt sind.

Also ändern wir unsere Gewohnheiten. Digital produziert werden Zeitungen (und Bücher) ohnehin seit 40 Jahren. Jetzt fällt die bedruckte Zellulose eben weg. Nehmen wir es gelassen. Und als Erlaubnis, doch bitte den Berliner Dom, die kitschige Wilhelminismus-Kathedrale aus Zeitungspapier, auch gleich zu entsorgen und durch einen Volkspark zu ersetzen, mit Abenteuerspielplätzen und Imbissständen mit feinster vietnamesischer, syrischer und nige­ria­nischer Küche.

Denn war das Digitale nicht einmal das große Versprechen auf Veränderung – darauf, all die klebrigen Kaiser aus der Vergangenheit loszuwerden?

Valentin Groebner

Der Autor unterrichtet Geschichte an der Universität Luzern. Im August ist sein neues Buch „Retroland“ bei S. Fischer erschienen.