Ausstellung „The Most Dangerous Game“: Wir sind jung und schön

Rebellion durch Spiel und Kunst: Die meisterhafte Ausstellung „The Most Dangerous Game“ untersucht, wie Situationisten die Revolte vorantrieben.

Ein zerschossener Pappkopf vor einer Zielscheibe

Ohne Titel: Ausschnitt einer Zielscheibencollage aus der Ausstellung Destruktion af RSG-6 in der Galerie Exi, Odense, Dänemark, 1963 Foto: Courtesy Private Collection

Leicht angewidert berichtete Le Monde im Oktober 1952 von einer Filmpromotion Charlie Chaplins im Pariser Ritz, ein Trupp „lächerlicher Grünzeugfresser“ habe sich eingeschmuggelt und mit Flugblättern um sich geworfen. Die Störenfriede wurden als Jünger von Isidore Isou identifiziert, dem Kopf der Lettristischen Internationale.

Der literarische Club der „Lettristen“ ziselierte das Gedicht zur Einzelstrophe, den Vers zum Klangbild, das freistehende Wort auf seine Buchstaben. Sie trafen sich gern im Chez Moineau, einer Bar im Quartier Latin des bitterarmen Paris, wo sich bald jeden Tag eine neue Avantgarde gründete. Das inkriminierte Flugblatt „Finis les pieds plats“ (Schluss mit den Plattfüßen) verhöhnte Chaplin, den der Kommunistenjäger Joe McCarthy eben aus Amerika vertrieben hatte: „Ihr seid der, der-mit-der-anderen-Backe-auch-noch-das-andere-Hinterteil-hinhält, aber wir, wir sind jung und schön, wir antworten ,Revolution', wenn man uns ,Leiden‘ sagt.“

Isou ernannte die Jugend zum revolutionären Subjekt, als „Externe“ des Marktwettbewerbs erschienen sie prädestiniert für den Umsturz.

Isidore Isou, der jüdische Flüchtling aus Rumänien, ist eine der Entdeckungen in der Ausstellung „The Most Dangerous Game“, die soeben im Berliner „Haus der Kulturen der Welt“ eröffnet wurde. Der Titel geht zurück auf eine verschollene Collage Guy Debords, des Spiritus Rector der Situationistischen Internationale (SI), einer randständigen, aber als Mythos überlebensgroßen Künstlergruppe, die sich 1957 von den Lettristen abgespalten hatte.

Ob Jüngere sich noch einmal als „Externe“ im digitalen Prekariat wahrnehmen?

Ihr Leitbegriff war Umherschweifen (Dérive), und Paris der Spielraum für die (namensgebende) „Konstruktion von Situationen“. Dazu gehörte das détournement, die Verkehrung vorherrschender Artefakte und Redeweisen gegen ihre ursprünglichen Absichten. Sie reichte vom fröhlichen Raub geistigen Eigentums bis zur raffinierten Modifikation (Übermalung) und opponierte gegen die Kom/modifikation in der „Gesellschaft des Spektakels“, wie Debords epochales Werk von 1967 hieß.

Üppige Bild- und Motivsammlungen

Die Kuratoren Wolfgang Scheppe (Arsenale Institute for Politics of Representation, Venedig), Roberto Ohrt und Eleonora Sovrani haben im Wissen darum, wie viele Bücher und Ausstellungen den „Situs“ schon gewidmet waren, eine echte Sensation geschafft, indem sie Debords Bibliothèque situationniste de Silkeborg, eine für den dänischen Wohnort des SI-Mitgründers Asger Jorn gedachte, aber nie realisierte Sammlung, in Berlin eingerichtet haben.

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Den Siuationisten, die von Anfang an ihre Selbstmusealisierung betrieben, verschafft diese kuratorische Meisterleistung noch eine Welturaufführung, die den Neulingen ein sonderbares Universum erschließt und auch den Kennern viel zu bieten hat.

Wie man es vom Haus der Kulturen der Welt gewohnt ist, muss man sich auf viel gedrucktes Material einstellen. Fast tausend Exponate wurden aus zum Teil entlegenen Archiven zusammengetragen: Flugblätter, Manifeste, Stadtpläne, Pamphlete, Fotos, hektografierte, zum Teil auch technisch brillant gemachte Zeitschriften. Helhesten, von 1940 bis 1945 im dänischen Untergrund von Jorn und seinem Bruder Jørgen Nash hergestellt, prägte die kollektive, oft klandestine Praxis der SI.

Eine Fundgrube sind Jorns üppige Bild- und Motivsammlungen wie „La langue verte et la cuite“ von 1968, die einen Aby Warburg übertrumpfen und megalomanen Publikationsprojekten Pate standen. Ein Schlüsseltext ist das Buch „Homo ludens“ des Kulturhistorikers Johan Hui­zinga von 1938. Er deutete das Spiel als Kernelement nicht nur der Kunst, sondern als besondere Form sozialen Handelns, das zweckfrei ist, aber genauen Regeln folgt, die „Situs“ sahen darin eine Praxis absichtsloser Autonomie gegen die rigide Arbeitsdisziplin.

Klammer zwischen Revolte und Kommerz

Hat man die Tischvitrinen abgeschritten und sich Zeit für die Filme genommen (darunter Debords „Hurlements en faveur de Sade“ und Lemaîtres Kino-Séance „Le film est déjà commencé?“, 1952), gelangt man – dem Parcoursplan des Erfinders folgend – in Abteilung zwo: Graffiti des Mai 1968, drapiert mit Polizeifotos, stehen der Konsumkultur gegenüber, weniger als Gegensatz denn als logische Übernahme (recupération). Den verblüffenden Beleg liefert das „Post Shop Magazin“, in dem der Versandhandel Werner Otto 1969 das rebellische Äußere der jungen Leute travestierte (zeitgleich wurde in der damaligen Textilstadt Nordhorn Emma Peel aus Swinging London angeheuert).

„The Most Dangerous Game“ läuft noch bis zum 10. Dezember im Berliner Haus der Kulturen der Welt.

Die Klammer zwischen Revolte und Kommerz bilden hier Hardcore-Pornos, die einige „Situs“ unter Pseudo­nym in Tarnverlagen des Hauses Gallimard herausbrachten, daneben entsteigt überlebensgroß „Molly Peters“, das ausgestopfte Bond-Girl des Künstlers Panamarenko von 1966, einem Sortiment von Playboy-Heften.

Selbst die schärfste Provokation, mit der wiederum Isou in einer (nicht nur literarischen) Travestie begonnen hatte, wurde per „Sexploitation“ eingemeindet. Streng (und im Jargon) richten Scheppe und Ohrt im umfangreichen Ausstellungskatalog des Merve-Verlags über „1968“: „Das endgültige Niederschlagen aller aufrührerisch praktischen Kritik an einem ökonomischen Herrschaftsprinzip, das sich mit dem Großen Dürfen, scheinbar errungen kraft der Anerkennung von Inhalten des Protestes, totale und bleibende Zustimmung verschaffte: Die Zustimmung dazu, dass Bedürfnisse nicht anders als im Wege des Konsums von Waren zu befriedigen seien und also nur mit der Inkaufnahme all jener Nöte, die deren Erwerb mit der Schranke der Zahlungsfähigkeit voraussetzt. Es war das Scheitern eines bislang historisch vorbildlosen Versuchs, aus dem Begriff der Kunst die Notwendigkeit der Verwirklichung des Spiels als universellen Zweck der Gemeinschaft menschlicher Subjektivität abzuleiten.“

Die Wütenden

Warum dann die Situationisten auferstehen lassen? Das „gefährlichste Spiel“ (nach einem B-Movie von 1932) war natürlich die Revolution. Die durch Rauswürfe und Spaltungen dezimierte Gruppe wandte sich endgültig vom kommerziellen und avantgardistischen Kunstbetrieb ab, wie Dieter Kunzelmann aus der Münchner Gruppe SPUR, von der (samt ihrer Abspaltung RADAMA) hier einiges zu sehen ist. Ende der Kunst? Zu frühen Gemeinschaftswerken, darunter das noch nie zu sehende Bild „o. T.“ von 1961, wird man in einen „anti-situationistischen Sektor“ verwiesen, dabei ist dieses „Archiv der letzten Bilder“ eine kongenial gehängte Synopse des später verachteten Kunstschaffens der Situationisten.

Fünfzig Jahre nach dem Mai ’68 interessierte die Ausstellungsmacher vornehmlich, wie die Enragés (Wütenden) eine Revolte auf die Spitze treiben wollten, deren Aneignung durch die populäre Massenkultur und eine reformistische Politik sie theoretisch antizipiert hatten. Das wendet sich wieder schroff gegen das freundliche 68er-Narrativ der „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas), und man ist gespannt, ob jüngere Besucher der Ausstellung (die zu „Spieleabenden“ eingeladen werden sollen) sich noch einmal als „Externe“ im digitalen Prekariat wahrnehmen oder im Teufelskreis (alias „Verblendungszusammenhang“) resignieren werden.

Ende der Geschichte? Abenteurer, lautete ein „psycho-geographischer“ Leitsatz, ist nicht der, dem sie zustoßen, sondern der sie herbeiführt. Damals trafen die „Situs“ mit Traktaten wie Mustapha Khayatis „Über das Elend im Studentenmilieu“ (1966) und Raoul Vaneigems „Traité de savoir-vivre à l’usage des jeunes générations“ (1967) das miserable Lebensgefühl der Jugend, die sich unter Graffiti wie „Lauf, Genosse, die alte Welt ist hinter dir!“ aufheiterte.

Der von der SI dominierte „Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen“ (CMDO) rief im Mai ’68 zur Bildung von Arbeiterräten durch die streikenden Belegschaften auf. Insofern haben die Situationisten eine Rolle gespielt, wenn auch nicht so zentral wie der panegyrische Debord auf dem Titelfoto einer deutschen Broschüre. Wer ihnen nahekam, spürte kalte Arroganz und unsolidarische Besserwisserei. Isidore Isou hatte sich davon schon 1952 nach der Chaplin-Aktion zurückgezogen.

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