Lernen aus der Leerstelle

Wenn das Politische persönlich wird: In Hamburg bringt Gernot Grünewald eine kluge Fassung von Corinna Pontos und Julia Albrechts RAF-Aufarbeitungsbuch „Patentöchter“ auf die Bühne

Das Innere nach außen gekehrt: Regisseur Grünewald puzzelt zwei Familienbilder in zwei exakt gleichen Bungalows zusammen Foto: Krafft Angerer

Von Katrin Ullmann

„Das helle Licht des Sommers war weg.“ Schon nach dem ersten Ferientag, nach diesem Ereignis. So beschreibt es Julia Albrecht. Sie ist die Schwester von Susanne Albrecht, die am 30. Juli 1977 zwei anderen RAF-Mitgliedern, Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar, Zugang zum Wohnhaus von Jürgen Ponto verschafft. In dessen Esszimmer erschießen ihn Mohnhaupt und Klar. Unvermittelt. Den Attentätern gelingt die Flucht. Jürgen Ponto ist zu diesem Zeitpunkt Vorstandssprecher der Dresdner Bank und Berater von Kanzler Helmut Schmidt. Susanne Albrecht ist die Tochter von dessen Jugend- und Studienfreund Hans-Christian Albrecht. Und sein Patenkind. Die beiden Familien waren seit Langem gut befreundet. Bis zu diesem Tag.

30 Jahre später, im Juni 2007, nimmt Julia Albrecht den Dialog auf. Zu Corinna, der Tochter von Jürgen Ponto. Vier Jahre später entstand aus diesem Kontakt – aus zahlreichen Briefwechseln, vorsichtigen Annäherungen und Begegnungen – ein bewegendes Buch. „Patentöchter“ heißt es und erzählt von Traumatisierung, dem Bruch zweier Familien, fragt nach Schuld, Opfern, Tätern und nach der Möglichkeit des Verzeihens. Es erzählt aus einer ganz persönlichen Sicht von einer Tat der RAF, aus der Sicht von Julia Albrecht, deren große Schwester für 13 Jahre untertaucht.

Gernot Grünewald hat den dichten Text in einer eigenen klugen Fassung im Hamburger Thalia in der Gaußstraße auf die Bühne gebracht. Er besetzt die jeweiligen Töchter gleich dreifach. Drei Generationen sprechen aus ihnen und auch mal die Stimmen der Eltern, die sich als einflussnehmende Erziehungsberechtigte ebenfalls die Schuld- oder zumindest die Mitschuldfrage stellen.

In zwei bis ins letzte Details exakt gleich eingerichteten Bungalows lässt Grünewald die Ereignisse geschehen. Die braune Couch, der Röhrenfernseher, die Stehlampe erzählen vom gehobenen Mief der 1970er-Jahre. Sie erzählen von der ähnlichen Sozialisierung der beiden Familien, die eine nahe Frankfurt lebend, die andere in Hamburg. Agil bewegen sich die Töchter-Mütter durch die Räume, kochen Kraftbrühe, bügeln Blusen, saugen Staub.

Aus der Welt gefallen

Währenddessen lesen sie aus dem „Patentöchter“-Buch, aus nicht abgeschickten Briefen, aus Vernehmungsprotokollen. Langsam puzzeln sich zwei Familienbilder zusammen. Verstärkt und immer wieder verschoben durch die Live-Kamera, die die Aufnahmen aus dem Inneren der Räume auf die Außenfläche der Bungalows projiziert.

Geschichte wird privat an diesem Abend, wird erlebbar und schicksalhaft. Das Politische wird persönlich, kränkend, vernichtend, traumatisierend. Die große Schwester schien für Julia Albrecht „aus der Welt gefallen“, obwohl sie auf Fahndungsplakaten im Alltag der damals 13-Jährigen omnipräsent war. „Die Abwesenheit war das, was an mir riss, viel mehr als die Tat“, erklärt Oda Thormeyer als Erste der Julias an diesem Abend ihre Wahrnehmung der Dinge.

Sie erzählt von der Scham, die sie umgibt, vom beredten Schweigen der Mitschüler und Lehrer, von der Verlegenheit als Grundgefühl jener Zeit. Und von ihrer Rolle, ihrem Stigma als „Schwester der Schwester“. Die Familie Ponto zieht kurz nach dem Mord nach New York. Arglos hatte sie die radikalisierte Patentochter damals eingelassen. „Wir hatten ein offenes Haus“, wiederholt die Schauspielerin Sandra Flubacher als Erste der Corinnas dieses Abends immer wieder. Dass Grünewald dabei manche Szenen allzu stark dramatisierend mit Musik unterlegt, mit Wiederholungen arbeitet oder mit plumpem Crescendo, ist überflüssig. Die Geschichte selbst berührt genug. Klug verstärkt wird sie durch das intensive Spiel der sechs Schauspielerinnen.

Etwa mit Alicia Aumüller als junge, energetische Julia. Als Studentin, die sich aufbäumt gegen ihr Elternhaus, die in undurchsichtige WGs zieht, die schrill auflacht, wenn ihre Mutter sie gutmeinend bittet, doch nicht ihr Leben zu verplempern. Fröhlich, stark und zielsicher ist Alicia Aumüller in der Rolle der Radikalisierten. Hart nimmt sie ihre Mutter am Essenstisch ins Verhör, später in der Rolle der Julia überschlägt sich ihre Stimme in unbändiger Freude über die wiedergekehrte, lang verlorene Schwester. Bevor sie von deren Entfremdung enttäuscht wird.

Die meisten Szenen an diesem Abend wirken allein durch die grandiosen Schauspielerinnen – durch die Videonahaufnahme rücken sie einem doppelt nah. In Rückblenden inszenieren sie die gemeinsamen Partys – Fasching, Silvester, Konfirmationen. Heiteres Lachen bildet den Grundton der Vertrautheit der Pontos und der Albrechts.

Jäh wird daraus nach jenem Sommertag ein trauerndes, irritiertes, fassungsloses Schweigen. Ein Schweigen, das versucht, das Unsagbare zu begreifen. Erst später, 30 Jahre später, wird Julia Albrecht den Versuch der Annäherung wagen. Bei dem am Ende – und so auch in dieser gelungenen Inszenierung – viele Fragen offen bleiben. Dürfen und müssen.

Nächste Aufführung: Fr, 5. 10., 20 Uhr, Hamburg, Thalia Gaußstraße; Weitere Termine: 9. 10. (ausverkauft), 7. 11., 15. 11., 24. 11., 5. 12.