Zerstört euch!

Aufbrüche ins Leben, fluide Stilwechsel. Philipp Weiss hat einen furiosen Debütroman in fünf völlig unterschiedlichen Büchern geschrieben: „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“

Abra Aoki, Heldin des im Roman enthaltenen Manga, gezeichnet von Raffaela Schöbitz Foto: Abbildung: Suhrkamp

Von Ekkehard Knörer

Dies ist ein Projekt, wie es noch keines gab. Ein Tausendseiten-Roman in fünf Bänden, ein Buch in fünf Teilen, von denen keiner dem anderen gleicht: nicht in der Form, nicht im Genre, nicht im Ton und im Stil, nicht in der Schrifttype, nicht in der Gestaltung. Es fehlt eine durchgehende Erzählung, auch einen vorgegebenen Beginn oder eine einzig logische Reihenfolge gibt es nicht. Man fängt also einfach an. Zum Beispiel bei den „Cahiers“. Selbst wieder ein Konvolut aus Text und Bild, Einband schwarz, Zeilen, die sich auf den Seiten verlaufen, Gedanken, die sich verirren, die sich verdichten, Fetzen, Ausrufe, die oft abgeschnitten sind von den Zusammenhängen, die man doch herzustellen versucht. So viel wird klar: Hier spricht, schreibt, kompiliert, findet und verliert sich eine Frau, Chantal Blanchard, Naturwissenschaftlerin, sie arbeitet an Klimamodellen. Aufzeichnungen aus fünf Monaten, November 2010 bis März 2011. Sie ist bitter, verzweifelt, vermisst ihren Geliebten Jona Jonas, dem sie doch entfloh, hat eine Obsession mit ihrer Ururgroßmutter Paulette, die in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts auf einer Expedition in Japan die Knochen eines Urmenschen fand und später ins Eis ging und in den Tod am Montblanc. (Oder auch nicht.)

Was durchläuft in den „Cahiers“, ist eine Erzählung, ein von Blanchard verfasstes Manifest mit dem Titel „Zerstört euch!“, eine Geschichte der Welt, buchstäblich zu nehmen: Vom Urknall bis zum Ende der Menschheit ist so ungefähr alles drin, was man weiß, über das Universum, den Planeten Erde, den eine schlimme Seuche befiel, alles, was die Physik, die Mathematik, die Biologie, die Naturwissenschaft wissen über die Welt und über diese Seuche darin. Ein Wesen, das sich hoffnungslos überschätzt, das am besten ausradiert würde, so sieht das Chantal, das zum Glück auch dabei ist, durch die Zerstörung der ökologischen Bedingungen seiner eigenen Möglichkeit mit sich ein Ende zu machen: „Zerstört euch!“ ist die Rede einer halb wahnsinnigen, vielleicht auch schon toten Wissenschaftlerin vom Weltenrand herab, dass kein Gott sei, kein Sinn, dass der Mensch gehen muss, wie er kam, und zwar schnell.

Mit diesem sehr finsteren Buch, dieser ungeheuer kundigen und sehr plausiblen Moritat vom Anthropozän, korrespondiert, nicht nur in der Länge, ein Band, von Pauline Altmann wie jeder der Bände mit Sorgfalt, Liebe, Understatement und schlichter Schönheit gestaltet, der sich „Enzyklopädien eines Ichs“ nennt. Komplizierte Sache zunächst, in die man sich aber rasch findet, wie überhaupt das ganze ambitionierte Projekt die Leserin mit offenen Armen empfängt, nicht Hermetik will, sondern sich darbietet wie eine Landschaft dem Blick, mal lieblich, mal schroff, mal zerklüftet, mal stellt sich ein Berg in den Weg, mal findet man erst am Horizont Halt.

Die „Enzyklopädien“ kommen als kleine mise-en-abyme, als Buch im Buch in Chantals „Cahiers“ vor, ein obskurer Dachbodenfund. Hier spricht die Ururgroßmutter Paulette Blanchard ihrerseits in Notizen, aber dieses Tagebuch-Ich ist von ihr selbst, wie man in einem Vorwort erfährt, zerklüftet in Stichworte, eben nach Art einer Enzyklopädie: von „Aeronautik“ bis „Yoshiwara“, nicht in einem alphabetischen Durchlauf, sondern in vielen, wobei jeder Abschnitt höchstens ein paar Monate im Leben der zu Beginn gerade 17-jährigen Paulette umfasst. Dieses Ich rundet sich nicht, sondern bleibt fragmentiert. Es geht, so schreibt sie, um „eine Ordnung, die alles in ein verwobenes Nebeneinander setzt statt ein Nacheinander“.

Poetologie des Projekts

Das ist eine Poetologie des gesamten Projekts, eine mögliche jedenfalls, und es stimmt, dass der Zusammenhang der fünf Bände eine Ordnung ergibt, die keine Unordnung ist. Wenngleich die ordnende Hand unsichtbar bleibt und die Verwebungen, die von hier nach da schießenden Fäden, die Verweise, Dopplungen, das Zuzwinkern über 140 Jahre hinweg, sich nie in den Vordergrund drängen. Die „Enzyklopädien“ erzählen von einem Aufbruch ins Leben, mehreren Aufbrüchen eigentlich. Paulette gerät – auf der Seite der Kommunarden – in die Pariser Kommune, sie setzt sich ab nach Wien, berichtet von der dort stattfindenden Weltausstellung, lernt einen Japaner kennen, geht mit ihm in seine Heimat, die sich gerade erst dem Westen zu öffnen beginnt. Sie erlebt Niederschmetterndes und berichtet, sie stürzt über den Weltenrand, so schreibt sie selbst, bricht auf zu einer Expedition. Hinreißend ist, wie der 1982 geborene Phi­lipp Weiss, der hier sein Prosa­debüt vorlegt, einen Ton trifft, den Ton dieser zu einem sehr unabhängigen Leben erwachenden Frau, den Ton der 1870er Jahre, einen Ton, der ein ganz anderer ist als der von Paulettes Ururenkelin Chantal.

Schreiben in Zungen

Weiss schreibt in Zungen, von denen keine der anderen gleicht. Es kommt, als Ich-Erzähler des schmalen Bands „Terrain vague“ – dies war, wie man nachlesen kann, der Keim des ganzen Projekts –, Chantals Geliebter Jona Jonas dazu, der nach Japan reist, auf der Suche nach der verlorenen Liebe, die er dort vermutet, aber vor allem einen Mann findet, der strahlenkrank im Krankenhaus liegt, von den Rettungsarbeiten im Atomkraftwerk berichtet und dann stirbt. Ergänzt wird die Fukushima-Erzählung durch die mündlichen Aufzeichnungen des hellwachen, altklugen neunjährigen Akio Ito, der nach dem Unglück sich alleine durch das havarierte Japan bewegt, auf der Suche nach Schwestern und Eltern.

Romancier Philipp Weiss Foto: Helmut Lackinger

Und dann noch, erst recht ungewöhnlich, „Die glückseligen Inseln“, ein Manga, da ist Weiss nur der Szenarist, gezeichnet hat ihn – ihrerseits aufs Fluideste zu vielen Stilwechseln fähig – die Künstlerin Raffaela Schöbitz. Die Heldin heißt Abra Aoki, sie taucht auch in der Jonas-Geschichte als Nebenfigur auf, eine Frau mit Arm- und Bein-Prothese, die in immer wieder neu ansetzenden Fantasmagorien sich auflöst, sich verliert. Nichts ist stabil, eine Erzählung der Gestaltwechsel, eine Serie von Bildern der fließenden Welt, in der die Grenzen zwischen Realem und Halluziniertem auf faszinierende Weise verschwimmen. Was aber hält die fünf Bände zusammen, so unterschiedlich sie sind – außer dem Schuber, in dem sie stecken?

Einen narrativen Gesamtzusammenhang gibt es nicht, auch wenn Figuren miteinander verwandt sind und teils in mehr als einem Band auftauchen können. Das sind jedoch nur sehr zarte Fäden. Die Bewegung von Westen nach Osten, der Aufbruch nach Japan, das ist ein wiederkehrendes Motiv, mit Fukushima als Ort und als Chiff­re für das katastrophische Potenzial unserer hochtechnisierten Zivilisation. Und doch zielt das Projekt als Gesamtes, anders als es die Tradition nun gerade vom Roman fordert, nicht auf Totalität. Genauer gesagt: Es setzt Band für Band, Band gegen Band, das Streben nach Totalität – des Ichs, der Welt, der Geschichte – mit dem Zerfall, der Fragmentierung in ein Verhältnis. Die oft großartige Fülle der Details ergibt doch kein Gesamtbild. Die Enzyklopädien des Ichs fügen und zersetzen zugleich das Subjekt. Chantal erzählt die Historie des Universums, während ihre Psyche zerflattert. Die Aufzeichnungen des Neunjährigen sind ein Bewusstseinsstrom, es geht darin, wie in der japanischen Katastrophenlandschaft nach dem Tsunami, drunter und drüber.

Entropischer Zerfall

Das Drunter und Drüber, das Streben nach dem Ganzen und der entropische Zerfall: Als Tendenzen gibt es in diesem großen Projekt stets beides. Es steht nebeneinander, nicht unverbunden, aber durch die Berührungen und Verschlingungen, durch die Verweise vom einen auf den anderen Band, die Nähe von Motivik und Ort ist es nicht versöhnt. Wenn es ein Moment der Beliebigkeit gibt, dann darin, dass es diese fünf Bände, diese Figuren, diese Geschichten sind. Es könnten weniger, es könnten weitere und andere sein. Aber noch diese Beliebigkeit ist notwendig: Wo keine Totalität behauptet wird und keine geschlossene Welt, da gibt es keine Möglichkeit, einen Anfang oder ein Ende aus sich heraus zu bestimmen. Man fängt also einfach an. Und am Ende, wenn man so oder so durch ist, setzt man sich am besten an den Weltenrand. Und lacht.

Philipp Weiss: „Am Weltenrand sitzen die Menschen und lachen“. Suhrkamp, Berlin 2018. 5 Bände, 1.064 Seiten, 48 Euro