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: Der volle Brahms

Bei Daniel Barenboim muss man immer ein bisschen Angst haben, wenn man über ihn schreibt. Die Möglichkeiten, ihn zu enttäuschen, sind vielgestaltig und recht schwierig zu umschiffen. Der Chefdirigent der Staatskapelle Berlin stellt nicht nur hohe Anforderungen an sich und seine Musiker, sondern auch an diejenigen, die sich als Presse über ihn äußern.

Zum zweiten Mal hat Barenboim jetzt die vier Symphonien von Johannes Brahms eingespielt, das erste Mal tat er das noch mit dem Chicago Symphony Orchestra. Auch für die Staatskapelle ist es erst die zweite Aufnahme: Das älteste Orchester Berlins – man musiziert seit 1570 – hat zuvor lediglich in den achtziger Jahren unter ihrem langjährigen Chef Otmar Suitner eine Plattenfassung der Symphonien vorgelegt. Eine Weltpremie­re bietet der Aufnahmeort: Der von Barenboim gegründete Pierre-Boulez-Saal hatte die Vorzüge seines transparenten Klangs bisher noch nicht mit einem großen Orchester auf Tonträger unter Beweis stellen dürfen.

Romantisch ist die Musik von Brahms, wie es sich für einen Romantiker gehört, und romantisch ist auch der Duktus der Interpretationen, die Barenboim für die vier Werke gewählt hat. Das mag dem einen oder anderen wenig zukunfts- oder gegenwartsgewandt erscheinen. Doch die Ergebnisse geben Barenboim durchweg recht. Wer etwa dem Charme der wuchtig anbrausenden Symphonie No. 3 bei ihm nicht zu erliegen vermag, hat eben kein Herz. Zwar ändert sich die Art, wie man den Kanon der klassischen Musik hört und spielt, zwangsläufig mit der Zeit. Wenn die Musik aber so zum Leben erweckt wird wie hier, ist sie damit, auf ihre Weise, völlig gegenwärtig.

Der schwer auf den Begriff zu bringende „deutsche Klang“, für den die Staats­kapelle steht, kommt diesen Symphonien sehr zugute. Wahlweise als dunkel, warm und voll charakterisiert, findet sich davon so ziemlich alles in diesen Aufnahmen. Übermäßig aufgetragen wirken sie nie. Ganz zu schweigen von den stillen Momenten, denen Barenboim mindestens genauso viel Spannung verleiht wie den Tutti-Passagen, im ersten Satz der vierten Symphonie zum Beispiel. Ein Brahms, mit dem man leben kann.

Tim Caspar Boehme

Johannes Brahms: „The Symphonies“; Staatskapelle Berlin, Daniel Barenboim (Deutsche Grammophon/Universal)