„Wer lässt schon Frühstück liefern?“

Manche verlassen das Land. Der Rest braut sein Bier zu Hause und feiert Hauspartys. Resignierte Istanbuler fühlen sich an den Iran erinnert

Resigniert: Das Leben in der Stadt spielt sich im Privaten ab Foto: dpa

Von Önder Abay

Mit Eingriffen in den großstädtischen Lebensstil, dem Druck, den die Regierung auf Andersdenkende und Oppositionelle ausübt, und angesichts der Wahlergebnisse vom 24. Juni dieses Jahres haben viele, vor allem junge Menschen das Land verlassen. Die, die bleiben, ziehen sich in die eigenen vier Wände zurück. Statt auszugehen, trifft man sich auf Hauspartys. Die gesellschaftliche Krise sowie die Suche nach Auswegen aus ihr prägen eine ganze Generation der Istanbuler Bevölkerung.

So wie die 26-jährige Opernsängerin Ronahi Aksoy. Seit sechs Jahren lebt sie in der Metropole am Bosporus. Während des letzten Jahres ihrer Ausbildung am Konservatorium sei sie noch verzweifelter geworden, erzählt sie. Femizide, sexueller Missbrauch, Tierquälerei und die laxe Bestrafung dieser Verbrechen haben sie pessimistischer gemacht.

Aksoy fühlt sich nur noch in ihrer kleinen Wohnung wohl und verlässt kaum noch das Haus. „In einer Stadt mit 20 Millionen Einwohner*innen quetschen wir uns in einige wenige säkulare Wohngegenden“, sagt sie. „Es sind nicht mehr als fünf Viertel, in denen eine Frau nachts noch auf die Straße gehen kann, ohne belästigt zu werden.“

Fast alle in ihrem Umfeld nähmen Antidepressiva, erzählt Aksoy. Tatsächlich greifen ihre Freund*innen mittlerweile sogar zu Drogen: „Selbst diejenigen, bei denen man meinte, dass sie so etwas nie tun würden, haben damit angefangen. Vielleicht ist das eine Art Flucht. Die meisten Leute suchen nach einer Gelegenheit, aus der Türkei abzuhauen.“

Junge Menschen verlassen das Land

Der umfangreichen Migrationsanalyse des Türkischen Statistikamtes (TÜIK) zufolge ist der Anteil derer, die die Türkei im Jahr 2017 verlassen haben, um 42 Prozent gegenüber dem Vorjahr angewachsen.

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Die Zahl der Auswanderer*innen betrug 2017 über 250.000 Personen, allein aus Istanbul waren es über 70.000, die der Stadt den Rücken zuwandten. Die meisten unter ihnen sind zwischen 24 und 29 Jahre alt. Junge Menschen verlassen das Land also, sobald sie ihren Schul- oder Universitätsabschluss erlangen. Seit der Islamischen Revolution von 1979 bis heute verzeichnet der Iran einen ähnlichen Trend. Junge Leute möchten nicht unter einem derart zermürbenden gesellschaftlichen Druck leben.

„Vor einigen Jahren waren an den Wochenenden hier im Ausgehviertel Tausende von jungen Leuten“, erzählt der Cafébesitzer Tuncer Döğer. Den Angriff auf den Nachtclub Reina in der Neujahrsnacht 2017, bei dem 39 Menschen getötet wurden und zu dem sich anschließend der sogenannte „Islamische Staat“ bekannte, sieht er als Wendepunkt: „Seit dem Anschlag meiden die Leute die Straßen. Die jungen Leute, die hier in der Gegend wohnten, trauten sich danach lange nicht aus den Häusern“, sagt er.

Für die säkulare Bevölkerung des Stadtteils stellte das Attentat einen Angriff auf den eigenen Lebensstil dar. Nun kommen nur noch wenige Kund*innen zum Café Siyah. Dafür haben die Hauslieferungen zugenommen.

Döğer schildert, dass er ein Angebot einer Firma für Internetbestellungen und Hauslieferungen zunächst nicht sehr sinnvoll gefunden habe: „Das war verblüffend. Ich dachte mir: Wer bestellt schon Menemen, also ein simples Rührei mit Gemüse, nach Hause?“

In den etwa 30 Frühstücksläden in der Hamam-Straße im Istanbuler Stadtteil Beşiktaş ist die Situation ähnlich. Fast alle liefern mittlerweile online aufgegebene Frühstücksbestellungen nach Hause. Der 38-jährige Döğer hat jetzt viel Zeit, um mit seinen Freund*innen Backgammon zu spielen. Döğer hat sich hierüber nach eigenen Angaben mehrfach den Kopf zerbrochen und am Ende eine Antwort für sich gefunden: „Mit Faulheit allein ist das nicht zu erklären. Verzweiflung bringt eine gewisse Lethargie und Enthaltung mit sich.“

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Es ist schwer, den Iraner Samed M. von seinen türkischen Altersgenoss*innen zu unterscheiden. Er trägt eine schwarze Sonnenbrille, ein weißes T-Shirt und dunkle Jeans, hat kurzes Haar und einen schwarzen Stoppelbart. Vor zwei Jahren ist er aus der iranischen Hauptstadt Teheran nach Istanbul gekommen und studiert Soziologie an einer Privatuniversität.

Wenn er Türkisch spricht, fehlen dem 23-jährigen Samed M. manchmal die richtigen Worte: „Da wir in einem repressiven Regime groß geworden sind, haben wir nicht gelernt, Dinge offen auszusprechen. Wir wussten nämlich nicht genau, was wir uns damit einhandeln würden. Was den Iran betrifft, herrscht viel Unwissen vor.“

Populistischer Ton ähnelt dem Diskurs im Iran

Samed M. vergleicht die Jugend beider Länder: „Unsere Lebensstile, unsere Träume, die Perspektiven ähneln sich sehr.“ Es gebe aber auch Unterschiede: „Alles, was hier offen ausgelebt wird, passiert im Iran zumeist hinter verschlossenen Türen“, sagt er. „Auf Hauspartys passiert all das, was gesetzlich verboten ist.“ Im Iran sei es „verboten, öffentlich zu flirten, es stehen schwere Strafen darauf“. Auch wenn der soziale Druck in der Türkei durch konservative Nachbarn ausgeübt wird, gibt es bislang keine gesetzliche Regelung zum Verbot solcher Kontakte.

Nevşin Mengü, eine der bekanntesten Nachrichtenmoderatorinnen in der Türkei, war über ein Jahr lang als Korrespondentin für einen privaten Fernsehsender in Teheran tätig. Mengü berichtet, dass sie in der Türkei oft gefragt worden sei, ob „wir zu einem zweiten Iran werden“. Sie ist allerdings der Meinung, dass diese Frage längst irrelevant sei, da „die Türkei in vielerlei Hinsicht eine Art Iran geworden ist“.

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Der populistische Ton, den die Regierung nach den Gezi-Protesten von 2013 aufnahm, sei inhaltsleer, aber stärke die eigene Basis, sagt Mengü. Hier sieht sie Ähnlichkeiten mit dem Gründungsdiskurs des islamistischen Iran: „Das iranische Regime füllt seit Jahren die leeren Mägen der wenig gebildeten Massen, die genau diesem Regime treu bis in den Tod sind. Und das sind sie wegen leerer Parolen wie ‚Embargos kriegen uns nicht klein‘ oder ‚Wir sind die größten auf der Welt, der Westen fällt vor uns auf die Knie‘.“

Mengü glaubt, dass die jungen Menschen von dieser Situation am stärksten betroffen seien: „Die Bildung und das gesellschaftliche Leben der Jugendlichen vollziehen sich innerhalb der Grenzen der Fantasie und Weltanschauung eines einzelnen Mannes.“

Aus dem Türkischen von Sebastian Heuser