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: Und dann kam alles ganz anders

Die zuletzt schwächelnden Eisbären gewinnen gegen die favorisierten Adler Mannheim glücklich mit 4:1

Coach Clément Jodoin hat offenbar eine Neigung zur Alltagsphilosophie

Die „Szene des Spiels“ ist ein Ausdruck, der wahrscheinlich von Kommentatoren erfunden wurde. In jedem Spiel finden sie so eine Szene – und auch interessanterweise immer bloß eine – aber die immer, egal ob bei einem 1:0 oder einem 5:1. Sie sagen dann betont wichtig: „Für mich die Szene des Spiels.“ Daran kann sich der Kommentator festhalten, und damit kann der Sender prima jede Wiederholung ankündigen.

In ganz seltenen Fällen gibt es so eine irre Szene wirklich. Am Sonntag zum Beispiel. Nach 30 Minuten Eisbären gegen Adler Mannheim rauscht der Mannheimer Brent Raedeke in Daniel Fischbuch, Raedeke muss fünf Strafminuten vom Eis. Bis dahin waren die Berliner dem Spiel fast chancenlos hinterhergelaufen. Hoch überlegene Mannheimer setzten die Eisbären vor dem eigenen Kasten fest, spielten nach Belieben Stafetten mit dem Puck, und allein der überragende und nicht beneidenswerte neue Eisbären-Torwart Kevin Poulin verhinderte zigmal den Rückstand. Bis zur 30. Minute eben.

„Manchmal gewinnt man Spiele, die man verlieren sollte“, philosophierte prompt der neue Eisbären-Coach Clément Jodoin nach der Partie. „Und manchmal verliert man Spiele, die man gewinnen sollte.“ Den Berlinern war also bewusst, dass ihr Sieg am Sonntag glücklich war. Denn nach Raedekes Bodycheck in der Überzahl, erzielten die Eisbären in fünf Minuten gleich zwei Tore. Die Partie kippte völlig. Am Ende siegten die Eisbären mit 4:1.

Aber gänzlich unverdiente Erfolge gibt es ja nun ebenfalls selten. Die Eisbären triumphierten eben auch, weil Mannheim beste Gelegenheiten nicht nutzte, während die Berliner eine neue Qualität für sich entdeckt haben: Effi­zienz. Sie machten aus nicht viel mehr als vier Chancen vier Tore. Und ein Spiel, das bis dahin seinen emotionalsten Höhepunkt in der Krebshilfe-Aktion „Pink in the Rink“ und dem Besuch des zurückgetretenen Ex-Goalie ­Petri Vehanen hatte, wurde plötzlich ein Schritt zu mehr Selbstbewusstsein. „Die zwei Tore in fünf Minuten haben das Momentum verändert“, bilanzierte Jodoin. „Heute hatten wir das ­Momentum.“

Die Lage beim Ex-Finalisten entspannt sich damit erst mal, was hilfreich ist nach dem ­holprigen Saisonstart. Derzeit stehen die Eisbären nach neun Spielen auf Platz 9, mit sechs Punkten Rückstand zur Tabellenspitze. In den vergangenen Wochen gab es eine schmerzhafte 1:5-Klatsche gegen Düsseldorf und ein 3:5 gegen Straubing, viele spielerische Probleme, dazu viele Verletzungssorgen und das peinliche Ausscheiden aus der Champions Hockey League (CHL) mit vier Niederlagen in vier ­Spielen.

Die Voraussetzungen für einen ruhigen Saisonstart waren auch nicht unbedingt gegeben. Der alte Kern der Mannschaft ist in die Jahre gekommen, der erfolgreiche Coach Uwe Krupp schmiss hin, nachdem ihn das Management angeblich nicht mehr haben wollte und ihn mit Alibi-Angeboten demütigte. Es gab öffentliche Streitigkeiten um seine Personalie. Dann übernahm im Mai der bisherige Co-Trainer Clément Jodoin, der wiederum eigentlich in Ruhestand gehen wollte.

Das Ziel: ein Platz unter den ersten Vier

Einen Platz unter den ersten Vier hat Jodoin jetzt als Ziel für die Hauptrunde ausgegeben. Der erfahrene Kanadier soll den Generationenumbruch des Teams managen und auf Krupps Vorarbeit aufbauen. Die Stimmung hat sich verändert: Statt des temperamentvollen, gelegentlich aufbrausenden Uwe Krupp sitzt da mit Jodoin ein freundlicher 66-jähriger Herr, der gelassen erklärt, geduldig ausführt, didaktisch vergnügt analysiert.

Und der offenbar eine Neigung zur Alltagsphilosophie hat. Auf eine Detailfrage zum sportlich bedeutungslosen CHL-Spiel an diesem Mittwoch gegen die Weißrussen von HC Neman Grodno erwiderte Jodoin: „Heute ist heute, und Mittwoch ist ein anderer Tag.“ Wohl wahr. Aber so viel Gelassenheit war lange nicht bei den Eisbären. Alina Schwermer