Abschied von dem Bruder

Eine lange Reise durch die Nacht ist Heinz Helles Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“. Immer wieder landet dieses Buch bei den letzten Dingen und verhandelt dabei die in #Metoo-Zeiten virulente Frage, ob man das, was einem angetan wird, durch Erzählen bannen kann

Zwei Halb­brüder auf Sauftour in München – so fängt Heinz Helles Roman an Foto: imago stock & people

Von Dirk Knipphals

Schwere Zeichen. Zunächst (und zwischendurch auch immer mal wieder) mag der Leser, die Leserin denken: Boah, das ist jetzt aber schon etwas dick! Muss der Bruder, bevor er stirbt, auch noch mal Vater werden? Und dann unter diesen Umständen? Mit einer Prostituierten als Mutter?

Dieses zunächst leicht Lindenstraßen-mäßig anmutende Setting ist die Ausgangslage in Heinz Helles Roman „Die Überwindung der Schwerkraft“, und das Buch folgt dabei einem überaus unironischen Schreibentwurf. Erzählen – bei dem 1978 geborenen Schriftsteller, der hier seinen dritten Roman vorlegt, ist das auch ein Umgang mit Umständen des Lebens, die man nicht versteht. Die einen verfolgen, teilweise auch fertig machen. Und es ist keineswegs ausgemacht, dass der Erzähler die Umstände durch Erzählen in eine Ordnung schieben kann.

Was einen allerdings von Anfang an dranbleiben lässt, ist das Bruderthema. Zwei Halbbrüder, derselbe Vater, verschiedene Mütter, gehen auf Sauftour durch ein unglamouröses nächtliches München und zugleich durch die furchtbare deutsche Geschichte. Bald meint man, die beiden zu kennen. Der Jüngere ist der Ich-Erzähler, nach dem Tod des Älteren erinnert er sich in einer großen Rückblende. Der Ältere setzt die Themen, während sie beide von Kneipe zu Kneipe tingeln und immer betrunkener werden (ihr Weg durch München lässt sich auf einem Stadtplan genau nachvollziehen).

Eine lange Reise durch die Nacht, das ist dieser Roman. Und in der Beschreibung des älteren Bruders ist er auch das Porträt eines Unter­gehers. Dieser Bruder ist Alkoholiker, Eigenbrötler, ein talentierter Doktorand der Geschichtswissenschaft, der sich die Dinge zu sehr zu Herzen nimmt und darüber auch etwas abdreht, seine Dissertation nicht hinbekommt und aus den bürgerlichen Rastern von Karriere und Beziehungen herausfällt. Er wird an Krebs sterben.

Heinz Helle: „Die Über­windung der Schwerkraft“. Suhrkamp, Berlin 2018, 202 Seiten, 20 Euro

Immer wieder landet der Text bei den letzten Dingen. Der Ältere empört sich über eine Schöpfung, in der Kindermörder wie Marc Dutroux vorkommen. Er ist besessen von der Bombardierung Hamburgs im Zweiten Weltkrieg, bezeichnet zugleich den Versuch, Treblinka zu verstehen, als Auflehnung gegen die Widerwärtigkeit der Menschheit als Ganze. Dann wieder hält er Monologe darüber, dass das Einzige, was bleibt, sich vorzunehmen sei, seinem eigenen Kind bedingungslose Liebe zu geben. Anstrengend ist dieser ältere Bruder, er ist der, der immer ein wenig zu dick aufträgt, der es sich schwer macht im Leben.

„Die Überwindung der Schwerkraft“ ist in langen, kunstvoll zusammengebauten Satzfolgen geschrieben, denen man sich beim Lesen schnell anvertraut. Den Rhythmus des Gehens und auch des betrunkenen Redens meint man bald herauszuhören. In einer der vielen schönen Passagen schmelzen die Parolen einer Nazidemo, auf der „Deutschland den Deutschen“ gerufen wird, mit der Parole der Gegendemo „Nie wieder Deutschland“ in einem Satz zusammen. Stimmungen kann Helle mit dieser Sprache überzeugend schildern – nein, mehr als das, in der Schilderung einer Trauerfeier kann er ein Gefühl für Trauer aufscheinen lassen. Und zwischendurch sticht eine Wendung wie „Damals dachte ich oft an Stalingrad“ wie ein Messer aus dem Text heraus. Der Großonkel der beiden Brüder ist in Stalingrad gefallen. Der Roman ist auch ein Buch darüber, wie es ist, ein Kriegsenkel zu sein, und wie schnell man in Deutschland, wenn man nur ein ganz bisschen gräbt, halt wirklich immer beim Zweiten Weltkrieg und dem Holocaust landet.

Man kann sich, während man das alles liest, aber auch immer mal wieder an Peter Weiss’ frühen Roman „Abschied von den Eltern“ erinnert fühlen. Wie bei Weiss gibt es auch hier bei Helle keinen einzigen Absatz. Aber auch inhaltlich gibt es Berührungspunkte. So wie Peter Weiss sich Anfang der sechziger Jahre an den beiden „Portalfiguren seines Lebens“, seinen Eltern, auseinandersetzt, „peilend zwischen Aufruhr und Unterwerfung“, arbeitet sich der Ich-Erzähler bei Heinz Helle an der Figur des älteren Bruders ab, schwankend zwischen Bruderliebe und Unverständnis.

Wie schnell man in Deutschland, wenn man nur ein bisschen gräbt, beim Zweiten Weltkrieg landet!

In Zeiten von #Metoo lohnt es sich sowieso, wieder mal einen Blick auf „Abschied von den Eltern“ zu werfen, dieses Buch gehört in die Ahnengalerie aller Texte, in denen ein Einzelner das zu benennen sucht, was ihm angetan wird; bei Weiss geht es dabei nicht um direkten Missbrauch, aber um die Kälte bürgerlicher Eltern, auch um Exilerfahrungen.

Heinz Helle liest sich wie ein Echo darauf. Allerdings mit Verschiebungen: Während Peter Weiss noch hoffen konnte, aus dem Bann der Zumutungen ausbrechen zu können, indem er ihnen in der Beschreibung ihre Macht nimmt, liest sich das bei Heinz Helle viel skeptischer. Vielleicht sind es gerade sogar solche Allgemeinbegriffe wie subjektive Perspektive oder Individuum, die er im Abschied von dem älteren Bruder, der er hier inszeniert, beschreibend bannen möchte.

Andere Episoden sind ganz direkt, etwa wenn der Erzähler sich darüber Gedanken macht, warum er nach dem Tod des Bruders keine Sprache findet, um mit seinem Vater über das Vorgefallene angemessen reden zu können. In einer schönen Schlussszene horcht er erst einmal dem Klang splitternder Glasflaschen nach.