Kommentar von Klaus Schloesser zur Grünen Spitzenkandidaten-Urwahl:
: Keine Macht für Niemand

„Die taz, Gralshüter von Basisdemokratie, entdeckt das ‚hässliche Gesicht der Demokratie‘. Wie bitte?“

Die Gefahr ist groß und sie ist menschlich: Wenn sich der Bogen einer langen politischen Vita dem Ende nähert, gehört es zu den größten persönlichen Herausforderungen für Politiker aller Couleur, den eigenen Abgang nicht zu verpassen oder zu vermasseln. Zu groß ist die Versuchung, sich mit Blick auf eigene Leistungen, Erfolge und Verdienste für (noch) unentbehrlich zu halten und Respekt und weitere Amtszeit von Parteifreunden und Wählern einzufordern. Das Erwachen kann böse, kränkend, verletzend sein.

In Bremen haben die Grünen vor gut einem Jahr ihre langjährige Bundestagsabgeordnete Marieluise Beck, die sich als Menschenrechts- und Osteuropapolitikerin bundesweit und international mehr Wirkung und Anerkennung erworben hatte als an ihrer Bremer Basis, mit vergiftetem Dank aus dem Amt komplimentiert. Natürlich wurde das strategische Ziel „Marie muss weg!“ sprachregulatorisch wohl verpackt: „Liebe Marie, wir danken Dir für viele Jahre großartiger Arbeit. Aber irgendwann muss man loslassen können und wissen, wann es Zeit ist Platz für Jüngere zu machen.“ Bumerang und Ironie solcher scheinheiligen Lobhudeleien, wie Marieluise Beck sie zum Beispiel von Bremer Parteigranden wie Hermann Kuhn und auch Karoline Linnert ertragen musste: Unerbittlich kommt die Zeit, da man sie auch gegen sich selbst gelten lassen muss: Jetzt also das große grüne Dankeschön für Karoline Linnert mit den besten Wünschen für den bevorstehenden neuen Lebensabschnitt mit mehr Zeit für Kinder, Lesen und Reisen und der herzlichen Bitte, auch aus der zweiten Reihe weiterhin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.

Lange politische Karrieren lassen vieles wachsen: Erfahrung, Wissen, strategische Klugheit, taktisches Geschick, Bekanntheitsgrad. Es wächst aber auch ein eher verborgen geführtes Konto: Wer wie Karo Linnert über 25 Jahre politisch in der ersten Reihe steht, hat auch viel Zeit und Gelegenheit, Parteifreunde vor den Kopf zu stoßen, Hoffnungen mit einem knallharten Nein zu enttäuschen oder Rivalen kurzerhand ganz aus der Bahn zu kegeln. Irgendwann wird dieses Konto der Verletzungen glatt gestellt. Am liebsten im Moment vermeintlicher Schwäche, gerne anonym, gerne im Schutz geheimer Wahlen: Der Stimmzettel als Retourkutsche oder späte Rache. Auf Linnerts persönlichem Saldo dürfte sich einiges angesammelt haben. So beeindruckend ihre öffentlichen Reden oft waren, voller Wucht, emphatisch, authentisch, moralisch aufgeladen, so beinhart und kalt bis ans Herz konnte sie hinter den Kulissen Gegner auch im eigenen Lager in die Schranken weisen oder gleich ganz von der politischen Bühne verdrängen.

Überdies: In keiner Partei dürfte der Abwehrreflex auf persönliche Ultimaten derart ausgeprägt sein wie bei den Grünen. Mit ihrer Forderung „Ganz oder gar nicht“ – hat Linnert einerseits nur den ungeschriebenen Usancen des Politikbetriebs Rechnung getragen. Andererseits: Bei den Grünen gelten andere Maßstäbe. Bis heute wirken Spurenelemente der antiautoritären Wurzeln der Gründungsphase in der grünen DNA. Wer so unverblümt wie Linnert den eigenen Machtanspruch zur Maxime macht, pokert hoch in einem Milieu, in dem man vor 30 Jahren noch gemeinsam „Keine Macht für Niemand“ sang.

Am Ende lagen ganze 32 Stimmen zwischen der Siegerin Maike Schäfer und Linnert. Hätten nur 17 sich anders entschieden, hätte die Spitzenkandidatin zum 5. Mal in Folge Linnert geheißen. Lässliche 17 Neins zu viel für Linnert – sie lassen sich locker und hinreichend mit antiautoritärer Verschnupftheit der einen oder Retourkutschen für unvernarbte Kränkungen der anderen erklären. Und, ja, es gibt auch eine ganze Reihe rationaler Abwägungen, die bei der Frage „Linnert oder Schäfer“ zur Abstimmung standen: Zurück zu grünen Kernthemen wie Ökologie und Klimaschutz oder Gestaltungsanspruch quer durch alle Politikfelder durch ein grünes Finanzressort? Endlich raus aus der undankbaren Rolle der strengen Kassenwartin hin zu schönen Herzensprojekten in Stadtbild oder Bildungslandschaft? Regierungsdisziplin auch im Wahlkampf oder „Beinfreiheit“? Öffnung für neue Koalitionsoptionen oder weiter mit Rot-Grün – im Zweifel eben mit der Linken?

Man darf den Bremer Grünen bescheinigen: Nach dem verunglückten Aufschlag des Landesvorstands, ein Frauentrio an die Spitze des Wahlkampfteams zu setzen, haben sie den basisdemokratischen Showdown am Ende mit größtmöglichem Anstand und Respekt der beiden Kandidatinnen über die Bühne gebracht. Keine Schlammschlacht, keine Schläge unter die Gürtellinie und am Ende kein Triumphgeheul. Umso rätselhafter und verstörender die Kommentare und Analysen in den Bremer Medien von Weser Kurier bis taz. Eine „öffentliche Hinrichtung“ und die „unerhörte“ Verdrängung eines Regierungsmitglieds von der Macht sieht der Chefredakteur des Weser Kuriers und beklagt das Fehlen von „Strippenziehern“, die in anderen Parteien solche Personalien geräuschlos und mit strategischem Kalkül austariert hätten. Und auch die taz, sonst gern Gralshüter von Transparenz und Basisdemokratie, entdeckt am Ende und wohlgemerkt erst angesichts des Ergebnisses plötzlich das „hässliche Gesicht der Demokratie“. Wie bitte? Mehr parteiinterne Demokratie als eine Urwahl geht nicht! Aber in Bremen sehen Journalisten, die bei politischen Personalwechseln sonst allzu gern auf Weisheiten aus dem Gemeinschaftskunde-Grundkurs zurückgreifen („Demokratie ist Macht auf Zeit“, „Demokratie lebt vom Wechsel“) das Politikgefüge in seinen Grundfesten erschüttert, zweite Sieger „entwürdigt“, und die Grünen größtmöglich beschädigt.

Lässt sich auf die plötzliche mediale Demokratieverdrossenheit ein Reim machen? Mir fallen nur zwei Deutungen ein. Variante 1: Ein strategisches journalistisches Interesse, die Grünen insgesamt als chaotischen Haufen, politikunfähig, zerstritten und rücksichtslos zu blamieren. Variante 2: Man kann sich in der Politik Feinde fürs Leben machen (s.o.). Man kann sich allerdings auch Freunde machen – auch unter Journalisten. Wenn die allerdings in Distanzlosigkeit und Kumpanei umschlägt, sollten Journalisten sich besser gleich als Pressesprecher bewerben. Bislang hat Karoline Linnert das Abstimmungsergebnis ihrer Partei jedenfalls mit mehr Würde und demokratischem Anstand ertragen als ihre wohlmeinenden Kommentatoren.