Die Mutter aller Lösungen

Kern jeder interkulturellen Erfahrung ist die Begegnung. Darauf fußt das Projekt „Encounter“, das Geflüchtete, Künstler*innen, Aktivist*innen und Ethnolog*innen zusammenbringt. Was dabei herauskommt, wird am kommenden Samstag in einem Magazin präsentiert

Schwimmhilfen auf dem Fluchtweg Foto: Alle Abbildungen: Asaf Luzon/encounter

Von Jonas Wahmkow

Sie ist das Dauer­thema in den öffentlich-rechtlichen Talkshows, Heimatminister Horst Seehofer (CSU) nennt sie sogar die „Mutter aller Probleme“ – Migration dominiert wie kaum ein anderes Thema die deutsche Medienlandschaft.

Namhafte Wochenzeitungen diskutieren ernsthaft darüber, ob man Ertrinkende retten sollte oder nicht. Es geht um „Flüchtlingswellen“ und wie sie bewältigen werden können. Die persönlichen Erfahrungen der Betroffenen bleiben dabei unerwähnt, selten kommen Menschen mit Flucht- oder Migrationserfahrung selbst zu Wort. Dafür nehmen die Gewalttaten einzelner Migranten und Geflüchteter umso mehr Raum in der Berichterstattung ein: idealer Nährboden für Generalisierungen und rassistische Vorurteile.

Klar ist, mit der Art und Weise, wie über Migration hierzulande gesprochen wird, liegt einiges im Argen.

Das Projekt „Encounter“ ist ein 2017 gegründetes viersprachiges Medienprojekt des Mauerpark Institute e. V., das neue Perspektiven auf das Thema Migration ermöglichen will. Das Projekt veranstaltet Workshops und Ausstellungen und betreibt einen Blog, wo es seine Er­gebnisse präsentiert. Beteiligt waren bisher Akademiker*innen, Aktivist*innen, Künstler*innen und Interessierte aus 19 Ländern. Gefördert wird Encounter von der Robert Bosch Stiftung.

Das Magazin Kommenden Samstag wird die erste Auflage des kostenlosen Printmagazins Encounter vorgestellt. Dies findet am Samstagabend, den 20. 10., im Lichtburgforum, Behmstraße 13, statt. Beginn ist 18.30 Uhr.

Weitere Informationen auf dem Blog: www.encounter-blog.com.

„Encounter“ ist ein neues Medienprojekt, das im vergangenen Jahr von einer Gruppe von Aktivist*innen, Ethnolog*innen und Künstler*innen gegründet worden ist. Sie suchen nach neuen Ansätzen, um über Mi­gra­tion zu reden. Dafür gehen sie einige Schritte zurück von der abstrakten tagespolitischen Debatte hin zur zwischenmenschlichen Begegnung – dem Kern jeder interkulturellen Erfahrung.

Im Zentrum steht das persönliche Erleben, das multimedial verarbeitet wird in Form von Reportagen, Illustrationen, Graphic Novels und Videos. „Jede Begegnung beginnt mit dir selbst“, heißt es auf dem Cover der am Samstag erscheinenden ersten Ausgabe ihres gleichnamigen Magazins, „… und mit einer anderen Person“.

Encounter versucht so, sich dem Thema Migration aus möglichst vielen verschiedenen Perspektiven anzunähern und legt dabei Wert auf den Dia­log. „Die Entstehung der Beiträge selbst ist eine inter­kulturelle Begegnungen“, erklärt Mitinitiatorin Sarah Fichtner.

Das Encounter-Team zählt über ein Dutzend verschiedene Nationalitäten. Alle Beiträge erscheinen in Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi, viele sind in Kollaboration entstanden. So illustrierte der israelische Zeichner Asaf Luzon während eines von Encounter veranstalteten Workshops die Fluchtgeschichte des Syrers Nadym Maher Hwrys.

Der Fluchtweg des Syrers Nadym Maher Hwrys, aufgezeichnet von dem israelischen Zeichner Asaf Luzon

Der 30-Jährige, der vor der Revolution in Syrien Bauingenieurswissenschaften studierte, floh vor der Zwangsrekrutierung durch die syrische Assad-Armee. Auf seinem Weg nach Deutschland überquerte er, wie viele andere auch, das Mittelmeer. Allerdings nicht auf einem Schlauchboot, sondern schwimmend überwand er mehrere Kilometer vom türkischen Festland zur griechischen Insel Castellorizo.

Nadym Hwrys bewältigte die Strecke zusammen mit einem Freund aus seiner Heimatstadt Latakia nur mit Hilfe von Taucherflossen und Schwimmhilfen für Kinder. Hwrys' Geschichte ist verrückt, einzigartig und sie zeigt, wie viele individuelle Schicksale sich hinter einem abstrakten Begriff wie „Flüchtlingswelle“ verbergen.

Der Inhalt von Hwrys’ Rucksack

Hwrys teilt seine Geschichte gern. Encounter ist für ihn eine Gelegenheit, der einseitigen Darstellung von Geflüchteten in den Medien etwas entgegenzusetzen. „Hat ein Flüchtling etwas Falsches gemacht, steht er gleich stellvertretend für alle Flüchtlinge“, erklärt er. „Aber ich repräsentiere auch nicht alle Syrer, sondern nur mich selbst.“

Dabei geht es bei Encounter nicht nur um Fluchtgeschichten. „Wir wollen auch das Alltägliche sichtbar machen“, sagt Fichtner, „sozusagen die Krise im Normalzustand.“ In den Beiträgen geht es auch um Fahrten in der U-Bahn, um Bürokratiestress beim Amt oder darum, ob man beim Fleischer unterschiedlich behandelt wird, je nachdem, ob man Schweine- oder Lammfleisch kauft.

Interkulturelle Begegnungen, wie sie in Berlin minütlich zu Tausenden passieren. Das Projekt zeigt: Migration ist keine Krise oder Bedrohung, sondern ein vielschichtiges Phänomen, das unsere Gesellschaft seit jeher prägt.