Ein bunter Zug durchs Land

Der Anti-Atom-Treck ist im Wesentlichen Folklore

Dr Zoch kütt!“ heißt es im Rheinland, wenn sich die Rosenmontagsparade nähert, aber im südöstlichen Niedersachsen liegt der Gedanke an Karneval fern. Trotzdem scheint das, was Bürgerinis und Gewerkschaften dort für den 20. Oktober planen vor allem als Brauchtum interessant. Sie wollen nämlich „mit einem bunten Anti-Atom-Treck“ aus „Traktoren, Bauwagen und Fahrrädern“ an ihre „gute und starke Protesttradition der Lichterketten und Frühstücksmeile anknüpfen“. Anlass?

Gibt’s keinen. Jedenfalls keinen aktuellen. Aber das braucht Brauchtum auch nicht, dessen Zweck es ist, zum gewohnten Zeitpunkt an den heiligen oder neuralgischen Orten stattzufinden: Der Protestzug gegen irgendwas mit Atomkraft beginnt laut „Arbeitsgemeinschaft Schacht Konrad“ am Sitz des Bundesamtes für Strahlenschutz (BfS) in Salzgitter und soll vor den Toren der Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE) in Peine enden. Es geht wohl darum, dass Schacht Konrad als Endlager für 303.000 Kubikmeter schwach- und mittel-radioaktive Abfälle abgelehnt, die Dauer der Arbeit daran problematisiert und das Asse-Bergwerk bei Wolfenbüttel stattdessen besser durch einen neuen Schacht ertüchtigt werden soll.

Nachrichtenleute und Politfuzzis gebrauchen den Begriff des Rituals meist verächtlich. Aber die Überführung von Protest in Folklore entwertet ihn nicht – oder glauben Sie, Katholiken würden Pilger- oder Fronleichnamsprozessionen unternehmen, um die Überlieferung ihres Kults zu diskreditieren? Folklore ist wichtig, weil die Halbwertzeit des strahlenden Abfalls die Lebensspanne der politischen Akteur*innen deutlich überschreitet.

Die inhaltlichen Debatten immer neu zu führen, die Positionen immer neu zu hinterfragen, kann nur ermüden, nicht mobilisieren. Um den Widerstand wachzuhalten, bleibt nur der Weg ins Zeremoniell, mit großer Kundgebung. Und Sermon am Ende. Amen.

Benno Schirrmeister