Dominic Johnson über die Pro-EU-Kundgebung in London
: Zynismus im Namen Europas

Es gibt für Briten viele Gründe, ­gegen den Brexit zu sein. Die Mitgliedschaft in der EU hat über die Jahrzehnte zu einem liberaleren und weltoffeneren Klima in der britischen Gesellschaft beigetragen, und in den Zeiten von Trump, Putin und Xi sind nationale Alleingänge riskant. Wenn die 670.000 Menschen, die die Pro-EU-Kampagne People’s Vote am Samstag in London auf die Straße gebracht haben will, aus diesen Gründen demonstrieren, ist das beeindruckend.

Doch bei näherem Hinsehen offenbart sich bei der Pro-EU-Kampagne ein unangenehmer Zynismus und eine schwer erträgliche Überheblichkeit. Schon der Begriff „People’s Vote“ ist fragwürdig: Was war denn das Brexit-Referendum von 2016 anderes? Damals, man erinnere sich, waren die britischen EU-Befürworter zunächst strikt dagegen, zu einer so grundsätzlichen Angelegenheit das Volk zu befragen, und warnten vor einer unumkehrbaren Entscheidung. Als sie das Referendum verloren, erklärten sie es plötzlich zu einer unverbindlichen Meinungsumfrage, nannten die Sieger Lügner und deren Wähler dumm. Sie zogen vor das Oberste Gericht, um eine Parlamentsabstimmung zu erzwingen. Das Parlament stimmte für den Brexit – nun soll indes wieder das Volk das letzte Wort haben, womöglich mit einem veränderten Wahlrecht und Suggestivfragen.

Und dann? Wie soll ein wie auch immer geartetes Ergebnis einer neuen Volksabstimmung die Debatte beenden? Der Verdacht, dass in der EU immer so lange abgestimmt wird, bis das Ergebnis im Sinne einer stärkeren Integration ausgefallen ist, ist so jedenfalls nicht zu entkräften. Dabei ist er der Hauptmotor des populistisch ausgeschlachteten Verdrusses über die EU und ihre Monopolisierung des europäischen Gedankens.

Wer wirklich für europäische Werte in Großbritannien einstehen will, sollte sich nicht in diese Sackgasse begeben. Wichtig wäre, einen Brexit so zu gestalten, dass er nicht den Nationalisten gefällt, sondern denen nützt, die in Großbritannien Veränderung wollen. Dafür wäre aber sowohl in London als auch in Brüssel ein anderer Geist nötig.

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