Viele drücken sich

Geringe Strafen, viele Ausnahmen: Es ist in der Ukraine leicht, sich der Wehrpflicht zu entziehen

Noch bis zum 31. Dezember läuft in der Ukraine die „Herbst­einberufung“, in der sich jeder Ukrainer im Alter zwischen 20 und 27 Jahren bei den Wehrbehörden melden muss. Gleichzeitig gehen Einberufungsbefehle an einen Teil der Wehrpflichtigen. 18 Monate dauert der Wehrdienst, für Männer mit einer höheren Schulbildung nur 12 Monate. 17.960 Männer sollen in diesem Zeitraum eingezogen werden. Es ist genau festgelegt, welche Städte wie viele Wehrpflichtige stellen: So muss die Fünf-Millionen Stadt Kiew 744 Männer zur Armee schicken, Odessa 995. Die Zahlen mögen bei einer Bevölkerung von knapp 40 Millionen Menschen gering erscheinen. Doch es ist dennoch fraglich, ob die Behörden die gesteckten Ziele erreichen werden.

Es gibt viele Gründe, die einen Mann vom Wehrdienst befreien: Wer für die Versorgung von nicht arbeitsfähigen Familienmitgliedern verantwortlich ist, mehr als zwei Kinder hat oder alleinerziehend ist, muss nicht zur Armee. Auch Wissenschaftler mit Doktortitel, Angestellte im medizinischen oder landwirtschaftlichen Bereich, die unabkömmlich sind, müssen nicht zur Armee.

Wer aus religiösen Gründen keinen Dienst an der Waffe leisten möchte und eine zuständige Kommission von seiner Aufrichtigkeit überzeugen kann, darf einen Zivildienst antreten. Dieser ist laut Gesetz das Anderthalbfache länger als der Militärdienst. In der Praxis leisten Zivildienstleistende aber oft einen dreijährigen Dienst. Doch wer nicht zum Militär will, macht sich in der Regel nicht die Mühe, eine Erlaubnis für sein Fernbleiben zu beantragen. Es ist einfacher, sich vor dem Militär zu drücken.

Wer beispielsweise in Kiew lebt, aber immer noch bei seinen Eltern gemeldet ist, ist für die Wehrbehörde nicht erreichbar. 80.000 bis 85.000 Männer umgehen den Militärdienst, sagte Generalleutnant Igor Romanenko, der ehemalige Chef des Generalstabes der ukrainischen Streitkräfte. Niedrige Strafen machen es ihnen leicht. So kann die Nichtbefolgung des Einberufungsbefehls mit umgerechnet fünf Euro bestraft werden. Zwar ist im Gesetz auch eine Freiheitsstrafe von drei Jahren für die Weigerung, der Einberufung zu folgen, vorgesehen. Doch bisher wurden keine Freiheitsstrafen verhängt. Jedes Jahr, so Romanenko, würden 1.500 Strafverfahren wegen Nichtbefolgung der Einberufung eingeleitet. Doch nur in zehn Prozent der Fälle treffe das Gericht überhaupt eine Entscheidung. Und da gebe es nur Geld- oder Bewährungsstrafen.

Gegenüber der taz berichtet der Wehrpflichtige Andriy (Name geändert) von einem ungewöhnlichen Vorgehen der Militärs, die Reihen der Wehrpflichtigen zu füllen. Im Stadtzentrum von Odessa sei er vor wenigen Tagen von einem Offizier und einem Polizisten angesprochen worden. Diese hatten ihn aufgefordert, zur Wehrbehörde zu kommen. Sofort sei er dort medizinisch untersucht und für tauglich erklärt worden. Und wer erst einmal gemustert ist, der kann dem Militär nicht mehr so leicht entwischen.

Bernhard Clasen